
Staatsbibliothek Berlin / Manuscripts section
Reuse subject to prior approval by Staatsbibliothek Berlin
Längst hätt' ich Ihnen, theurer Freund, auf den
freundlichen Brief antworten sollen, den ich schon vor
geraumer Zeit von Ihnen empfing. Es ist ein Laster,
daß man oft auch das aufschiebt, was man gern
thut, u so geht es mir nur zu oft mit den liebsten
Briefen. Man sollte antworten, indem man sie
empfängt. Wie gütig beurtheilen Sie einen Ju=
gendversuch von mir, den Lovell, den, so schwach er
sein mag, ich doch nicht bereuen kann, geschrieben
zu haben. Es hat mich sehr gefreut, daß einem
Mann wie Ihnen, der Geschichte u Welt kennt,
das Buch nicht mißfallen, vielmehr gefallen
hat. Ihr ganzer Brief ist erfreulich, u was sie
von den Philistern u Nichtphilistern sagen er=
regt Nachdenken. Ich habe mich schon oft über
diese Seltsamkeit unserer Tage gewundert, daß
so manche der besten Köpfe, bloß weil sie das
Solide ud Gründliche gründlich ernst treiben
wollen, in den Versuch fallen, zu wähnen, sie wären
doch gleichsam um einige Stadien der Begeiste=
rung u dem wahren Erkenntniß der Poesie
ferner. 1 Unter so vielen Genies dieser neuern
1 Here begins the excerpt from Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel, vol. I, p. 279.
Tage, die ich Ihnen wohl nicht nahmhaft zu
machen brauche, stehe ich schon längst als ein Philister,
u habe mich von jeher so zu ihnen verhalten, denn
ich hasse nichts so sehr als Anarchie, sei es im Staat,
in der Kunst, oder Seele. Leerheit wird wie Leich=
tigkeit und poetischer Leichtsinn, Unwissenheit
allein giebt noch kein Shakspearsches Naturell,
ja ein Talent, selbst wenn es da ist, geht auf diesem
Wege zu Grunde. Novalis sagt,: Gemüth u Geschick
(Schicksal) sind nur Synonime für denselben Begriff;
u ich glaube auch Charakter u Talent. Ich kehre die
alte Beschuldigung lieber2 um, ud sehe in jenen
naturalistischen Dilettanten, in jenen Verschmähern der
Ordnung u der Erkenntniß,3 die sich einbilden, das
Schöne u Grosse4 ginge verlohren, wenn man es sich
zum Verständniß bringen will,5 die ächten Philister.
Denn leben sie nicht von zwei oder drei Begriffen,
die wir immer wieder anhören müssen? Sind sie
wohl des Enthusiasmus fähig? Ist selbst ihre
Idolatrie unseres Göthe etwas anders als Spieß=
bürgerei, die ehemals eben so über Klopstock, oder
Wieland, oder Bodmer faselte? Darinn besteht ja
der [Badant]6, daß er nur eins kennt u will, ohne
Kraft u Erkennen. Darum ist Iihnen der herrliche
2 Instead of „lieber“, Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel (vol. I, p. 279) read „wieder“.
3 Instead of a coma Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel, vol. I, p. 280 read a left parenthesis.
4 „Grosse und Schöne“ in Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel, vol. I, p. 280.
5 Instead of a coma Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel, vol. I, p. 280 read a right parenthesis.
6 Instead of „Badant“, Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel (vol. I, p. 280) read „Pedant“ (maybe a confusion between the two French terms „badaud“ and „pédant“?).
211
Solger ein Gräuel, dessen Natur sie gar nicht ein=
mal ahnden, um den man, wie um eine schöne Bild=
säule, herum gehn, u ihm tausend interessante Anblicke
abgewinnen kann. Aber jene sehn auch im Göthe, Shakspeare
u der Natur nur die Dekoration, und zwar dürfen
ihnen auch Coulissen nicht fehlen, u sie bewundern dann
am meisten, wenn sie ausserhalb der Perspectiv-Li=
nie stehn u sich ihnen alles verzerrt. Von frühester
Jugend habe ich mich von diesen Naturspielen los=
gesagt. Möchten sie doch lieber gleich über einen
Dendriten, als einen Claude Lorrain sprechen, denn wenn
sie aufrichtig sind, müssen sie in jenem mehr als in
diesem sehn. – 7 Aber zugleich bin ich, wenn auch nicht
böse, doch ein weniges empfindlich, daß Sie mir,
Liebster, nach so schönen Versprechungen, Ihre Univer=
salgeschichte nicht habe gönnen wollen. Wäre ich nicht
mehr träge als boshaft, so hätte ich Ihnen den
abgeredeten Bogen voll Critik darüber zugesandt,
ohne sie gelesen zu haben. Seitdem ist auch Ihr Buch
über das Mittel-Alter vorgerückt, was mir noch mehr
am Herzen liegt. – Solger ist fleissig gewesen,
Sie haben gewiß schon seine Dialogen. – Ist es denn
nicht möglich, vor dem Druck etwas von Ihren Arbeiten
zu sehn, da Sie diesen so weit hinaus schieben.
7 End of the excerpt in Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel, vol. I, p. 280.
Der Ihnen dieses Blatt übergiebt, ist ein Neveu8 von
mir, dem ich alles Gute wünsche, u also auch, daß
Sie sich seiner etwas fannehmen und ihn Ihres Um=
ganges würdig finden möchten. Er wünscht Geschichte
u Philologie zu studiren, ist arm u etwas hypochonder,
wie das die guten Köpfe vormals in diesen Jahren so
oft waren: ich glaube, daß viele Kräfte u Anlagen
in ihm kämpfen, ein reifes Gemüth kann oft im
minutenlangen Gespräch mehr thun, als ein Unterricht
von vielen Wochen. Sie können ihm vielleicht anweisen,
wie er seine Zeit am besten nüzt. Die Handhabe der
Gelehrsamkeit, nicht die Gelehrsamkeit selbst, soll man
sich auf der Akademie anwerben. Mit dieser meiner
Vorbitte bin ich so dreist, weil ich Ihrer Freundschaft
u [bin]wahren Humanität gleich gewiß zu sein glaube.
Ich schweige von den neusten politischen Vor=
fällen. Wir erleben trostlose Zeiten, werden ohne
Steuer u Mast, auf leckem Schiff, auf wildem
Meer umher getrieben. Immer sei Freundschaft,
Glaube, Liebe unsre Losung, so stellt sich auch die
Hofnung wohl wieder ein.
8 This nephew is probably the son of his sister Sophie, Wilhelm Bernhardi.
Längst hätt' ich Ihnen, theurer Freund, auf den freundlichen Brief antworten sollen, den ich schon vor geraumer Zeit von Ihnen empfing. Es ist ein Laster, daß man oft auch das aufschiebt, was man gern thut, und so geht es mir nur zu oft mit den liebsten Briefen. Man sollte antworten, indem man sie empfängt. Wie gütig beurtheilen Sie einen Jugendversuch von mir, den Lovell, den, so schwach er sein mag, ich doch nicht bereuen kann, geschrieben zu haben. Es hat mich sehr gefreut, daß einem Mann wie Ihnen, der Geschichte und Welt kennt, das Buch nicht mißfallen, vielmehr gefallen hat. Ihr ganzer Brief ist erfreulich, und was sie von den Philistern und Nichtphilistern sagen erregt Nachdenken. Ich habe mich schon oft über diese Seltsamkeit unserer Tage gewundert, daß so manche der besten Köpfe, bloß weil sie das Solide und Gründliche gründlich ernst treiben wollen, in den Versuch fallen, zu wähnen, sie wären doch gleichsam um einige Stadien der Begeisterung und dem wahren Erkenntniß der Poesie ferner. 1 Unter so vielen Genies dieser neuern
1 Here begins the excerpt from Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel, vol. I, p. 279.
Tage, die ich Ihnen wohl nicht nahmhaft zu machen brauche, stehe ich schon längst als ein Philister, und habe mich von jeher so zu ihnen verhalten, denn ich hasse nichts so sehr als Anarchie, sei es im Staat, in der Kunst, oder Seele. Leerheit wird wie Leichtigkeit und poetischer Leichtsinn, Unwissenheit allein giebt noch kein Shakspearsches Naturell, ja ein Talent, selbst wenn es da ist, geht auf diesem Wege zu Grunde. Novalis sagt: Gemüth und Geschick (Schicksal) sind nur Synonime für denselben Begriff; und ich glaube auch Charakter und Talent. Ich kehre die alte Beschuldigung lieber2 um, und sehe in jenen naturalistischen Dilettanten, in jenen Verschmähern der Ordnung und der Erkenntniß,3 die sich einbilden, das Schöne und Grosse4 ginge verlohren, wenn man es sich zum Verständniß bringen will,5 die ächten Philister. Denn leben sie nicht von zwei oder drei Begriffen, die wir immer wieder anhören müssen? Sind sie wohl des Enthusiasmus fähig? Ist selbst ihre Idolatrie unseres Göthe etwas anders als Spießbürgerei, die ehemals eben so über Klopstock, oder Wieland, oder Bodmer faselte? Darinn besteht ja der [Badant]6, daß er nur eins kennt und will, ohne Kraft und Erkennen. Darum ist ihnen der herrliche
2 Instead of „lieber“, Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel (vol. I, p. 279) read „wieder“.
3 Instead of a coma Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel, vol. I, p. 280 read a left parenthesis.
4 „Grosse und Schöne“ in Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel, vol. I, p. 280.
5 Instead of a coma Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel, vol. I, p. 280 read a right parenthesis.
6 Instead of „Badant“, Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel (vol. I, p. 280) read „Pedant“ (maybe a confusion between the two French terms „badaud“ and „pédant“?).
Solger ein Gräuel, dessen Natur sie gar nicht einmal ahnden, um den man, wie um eine schöne Bildsäule, herum gehn, und ihm tausend interessante Anblicke abgewinnen kann. Aber jene sehn auch im Göthe, Shakspeare und der Natur nur die Dekoration, und zwar dürfen ihnen auch Coulissen nicht fehlen, und sie bewundern dann am meisten, wenn sie ausserhalb der Perspectiv-Linie stehn und sich ihnen alles verzerrt. Von frühester Jugend habe ich mich von diesen Naturspielen losgesagt. Möchten sie doch lieber gleich über einen Dendriten, als einen Claude Lorrain sprechen, denn wenn sie aufrichtig sind, müssen sie in jenem mehr als in diesem sehn. – 7 Aber zugleich bin ich, wenn auch nicht böse, doch ein weniges empfindlich, daß Sie mir, Liebster, nach so schönen Versprechungen, Ihre Universalgeschichte nicht habe gönnen wollen. Wäre ich nicht mehr träge als boshaft, so hätte ich Ihnen den abgeredeten Bogen voll Critik darüber zugesandt, ohne sie gelesen zu haben. Seitdem ist auch Ihr Buch über das Mittel-Alter vorgerückt, was mir noch mehr am Herzen liegt. – Solger ist fleissig gewesen, Sie haben gewiß schon seine Dialogen. – Ist es denn nicht möglich, vor dem Druck etwas von Ihren Arbeiten zu sehen, da Sie diesen so weit hinaus schieben.
7 End of the excerpt in Raumer's Lebenserinnerungen und Briefwechsel, vol. I, p. 280.
Der Ihnen dieses Blatt übergiebt, ist ein Neveu8 von mir, dem ich alles Gute wünsche, und also auch, daß Sie sich seiner etwas annehmen und ihn Ihres Umganges würdig finden möchten. Er wünscht Geschichte und Philologie zu studiren, ist arm und etwas hypochonder, wie das die guten Köpfe vormals in diesen Jahren so oft waren: ich glaube, daß viele Kräfte und Anlagen in ihm kämpfen, ein reifes Gemüth kann oft im minutenlangen Gespräch mehr thun, als ein Unterricht von vielen Wochen. Sie können ihm vielleicht anweisen, wie er seine Zeit am besten nüzt. Die Handhabe der Gelehrsamkeit, nicht die Gelehrsamkeit selbst, soll man sich auf der Akademie anwerben. Mit dieser meiner Vorbitte bin ich so dreist, weil ich Ihrer Freundschaft und wahren Humanität gleich gewiß zu sein glaube.
Ich schweige von den neusten politischen Vorfällen. Wir erleben trostlose Zeiten, werden ohne Steuer und Mast, auf leckem Schiff, auf wildem Meer umher getrieben. Immer sei Freundschaft, Glaube, Liebe unsre Losung, so stellt sich auch die Hofnung wohl wieder ein.
Ganz der Ihrige Ludwig Tieck.8 This nephew is probably the son of his sister Sophie, Wilhelm Bernhardi.