
Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz
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Mit großer Sehnsucht habe ich einen Brief von Ihnen erwartet:
es ist recht betrübt, wenn man sich eine Zeitlang täglich gesehn
und alles miteinander getheilt hat, nun plötzlich gar nichts
voneinander zu wissen; der Abreisende, der viel Neues, und,
wie dies bei Ihnen der Fall war, Freudiges erlebt, empfin=
det diesen Kummer weniger als die Zurückbleibenden. Ich
dachte wohl daß Sie nicht eher als in Düsseldorf zum Schreiben
kommen würden, und freute mich durch Agnes2 etwas von
Ihnen zu hören. Haben Sie von uns allen den schönsten Dank
für Ihren lieben Brief: Wir freuen uns recht daß die Reise
Ihnen gut bekommen ist, und daß es Ihnen bei uns gefallen
hat.3 Wie oft, und bei wie vielen Gelegenheiten haben wir Sie
vermißt und zurück gewünscht; wir hatten kurz nach Ihrer
Abreise noch so herrliches Wetter, wie schön hätten wir da
die saure Milch noch essen können. SWären Sie nur länger bei uns
geblieben; ich hätte gern noch über vieles mit Ihnen gesprochen,
und ich glaube wir würden uns immer recht gut verstehen:
Ich denke noch mit Vergnügen an das Ihr Gespräch mit Baudissin
über die Religion, wo ich zwar nur ein stummer Zuhörer war,
Ihnen aber im Herzen so ganz beistimmen konnte. | Unter uns 4 es ist für mich schwer bei uns an einem Gespräch Theil
gesagt,
zu nehmen, weil die Gräfinn so sehr verletzbar ist, und Dinge
empfindlich nimmt bei denen man es nicht begreifen kann:
Sie haben es vielleicht nicht bemerkt; aber als Sie einen Morgen
mit meinem Vater über den Egmont sprachen, hatte mir die
1 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 169) fehlt die Anrede.
2 Uechtritz war von Dresden über Heidersdorf und Berlin zurück nach Düsseldorf gereist. Vermutlich befand sich Agnes Tieck zum gleichen Zeitpunkt wie Uechtritz in Berlin.
3 Uechtritz hatte im September 1832 die Familie Tieck in Dresden besucht und wurde erstmals auch in ihrem Hause untergebracht.
4 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 169) fehlt „Unter uns gesagt,“.
Gräfinn die wenigen Worte die ich sagte so übel genommen
daß sie mehrere Tage nicht mit mir reden wollte; so etwas suche
ich natürlich zu vermeiden, und fühle mich deßhalb in ihrer Gegen=
wart immer genirt. | Daß es sich in Berlin nicht angenehm
lebt kann ich mir denken, und Sie sind gewiß in Düsseldorf5 viel
glücklicher in einer gewissen Abgeschiedenheit von der Welt und
doch nicht einsam; es wäre recht schön wenn wir Sie dort einmal
besuchen könnten, dazu ist aber jetzt gar keine Aussicht; den̄
da Vater dies Jahr nichts geschrieben hat als die Eine Novelle6
wird es auch sehr am Gelde fehlen, und an kein7 Reisen zu
denken seyn. Sie fragen mich weßhalb das Taschenbuch8 nicht her=
aus kommt: Weil er das Schreiben immer aufgeschoben hat,
bis es endlich zu spät war, es ist recht schade, und geht am
Ende das künftige Jahr wieder so.9 ([Von Ihren hiesigen Bekan̄ten
muß ich Ihnen doch erzählen: bei Baudissins10 ist Hochzeit ge=
wesen.11 Wir waren den Polterabend dort, wo Piramus und
Thisbe12 aufgeführt ward. Es ging recht gut und machte viel
Vergnügen; die Scene in welcher die Handwerker zuerst zu=
sammen kommen war mit dazu genommen,13 und bei dem Spiel
selbst vor Theseus mit seinem Hofstaat, und alle Zwischenreden
wurden mit gesprochen. Piramus hatte viel Dreistigkeit
und Routine, was bei Dilettanten schon immer viel werth
ist; Thisbe war aber ganz schlecht, und that wegen der zu großen
Uebertreibung gar keine komische Wirkung. Mondschein, Wand
und Löwe wurden von drei jungen Grafen Thun dargestellt
und gefielen mir am besten. Der Hochzeitstag wurde gar nicht
gefeiert und wir waren nur in der Kirche bei der Trauung.
5 Durch Bemühungen seiner, nun in Düsseldorf ansässigen, Berliner Bekannten Immermann und Friedrich Wilhelm von Schadow (Leiter der Düsseldorfer Kunstakademie), konnte Uechtritz im Februar 1829 von Trier an das Düsseldorfer Amtsgericht wechseln.
6 Die Ahnenprobe erschien in der Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1833.
7 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 170) steht „keine“ statt „kein“.
8 Die Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1833 erschien erst 1833. Auch der geplante „Novellenkranz. Ein Almanach auf das Jahr 1833“ wurde nicht rechtzeitig fertiggestellt, sodass der dritte Jahrgang erst 1833 als Novellenkranz. Ein Almanach auf das Jahr 1834 erscheinen konnte.
9 Bei Sybel: Erinnerungen folgt eine markierte Auslassung bis einschließlich „kommen nun nach“ (S. 3 (Bl. 2 recto)).
10 Wolf Heinrich von Baudissin, seine Frau Friederike Juliane und deren Adoptivtochter Isabella.
11 Baudissins Nichte und Adoptivtochter Isabella heiratete den Franzosen Armand de Cubières. Die Ehe wurde 1844 wieder geschieden. (Vgl. Goldmann: Wolf Heinrich Graf Baudissin, S. 79.)
12 Die Sage von Pyramus und Thisbe verarbeitete Ovid in seinen Metamorphosen. Shakespeare übernahm das Stück als parodistisches „Spiel im Spiel“ in den Sommernachtstraum, wo es eine Gruppe von Handwerkern auf der Hochzeit von Theseus und Hippolyta aufführt.
13 Shakespeares Sommernachtstraum, 1. Akt, 2. Szene. (Vgl. Shakspeare's dramatische Werke. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel, ergänzt und erläutert von Ludwig Tieck, Bd. 3, 1830, S. 197–259.)
Dieser französische Mann und Schwiegersohn hat in unsern Umgang
mit Baudissins eine große Störung gebracht: er kann kein Deutsch
lernen, nicht einmal so viel daß er eine Vorlesung oder ein Ge=
spräch versteht, und uns allen ist das Französische zu fremd und
wenig geläufig. Es ist schade um das Mädchen: ich begreife gar
nicht wie man einen Franzosen lieben und heirathen kann.
Sternberg ist seit einiger Zeit nicht bei uns gewesen, weil
er immer kränkelt, die bösen Folgen daß er Karlsbad14 nicht or=
dentlich gebraucht hat kommen nun nach.)] Wir sind alle wohl und
leben sehr still, besonders ich; ich gehe viel spatzieren aber selten
zu Menschen, die Lüttichau ist die einzige die ich oft und gern sehe.
Sie werden das wieder Menschenhaß nennen, aber Sie haben doch
eigentlich Unreecht. Was nutzt es mit Menschen zusammen zu kom=
men und Dinge zu sprechen die für keinen von beiden ein In=
teresse haben? Selbst der Umgang mit den Menschen die man liebt
giebt oft so viel mehr Schmerzen als Freuden: wie oft wird man
in den besten Empfindungen grade mißverstanden, und von
denen, denen man ein volles Vertrauen entgegen bringt, kalt
und abstoßend behandelt. Die Leiden, die aus solchen Erfahrun=
gen entspringen sind doch wohl mehr demr Menschenliebe als dem
Haß zuzuschreiben. Ich will auch gern die Schuld allein auf mich
nehmen, wohl mag mir die unentbehrliche Leichtigkeit im Um=
gang fehlen, so nehme ich denn alles zu ernst, und verletze
vielleicht oft andre, gerade wenn ich es am besten meine, aber
Sie müssen mir doch zugeben daß man dafür nicht kann. Auch
bin ich jetzt fast immer heiter und recht innerlich in mir selbst
vergnügt. Die äußere Einsamkeit hat doch deßhalb einen großen
14 Gemeint sind die Karlsbader Heilquellen.
x Werth, weil sie die innere Einsamkeit und Sammlung des
Gemüths begünstigt, und wie viel leichter wendet sich wieder
in dieser Sammlung unsere A Seele zu Gott, der allein durch
seine innere Gegenwart jede Sehnsucht befriedigen kann.
Ich habe nun die Briefe von Horaz auch gelesen, und finde sie
noch schöner als seine übrigen Gedichte, auch die Ars poetica
hat mir sehr gefallen. Zwar können diese Vorschriften keinen
Dichter bilden, doch ist viel Lehrreiches darin. Daß es in der Poesie X
keine Mittelmäßigkeit giebt, und der welcher nicht die Höhe er=
reicht Göttern und Menschen verhaßt ist, ist ein schönes Wort.15
Die Ilias habe ich nun auch geendigt, und erst seit ich sie griechisch
gelesen habe, ist es mir als kenn ich sie, ich bin ganz glücklich
ganz entzückt gewesen, fast immer wenn ich darin las, und sie
scheint mir doch höher zu stehn als die Odüssee. Halten Sie es
wohl für einen bloßen Zufall, daß in diesem Gedicht die Muse
zum Erzählen, in jenem zum Singen aufgefordert wird?16
Die Lusiade habe ich gelesen, ich kann aber noch zu wenig Por=
tugiesisch und habe mich zu viel mit der Grammatik und
einem schlechten Wörterbuch dabei quälen müssen um die
Schönheit recht zu genießen, ich werde sie nun wieder von vorn
anfangen. Vor kurzem hat Vater uns in zwei Abenden den
Zerbino vorgelesen: es ist doch ein herrliches Gedicht, und fast
nirgends die Poesie so als das aufgestellt was sie ist: der
Trost des Lebens, der Schmuck der Welt. Der Garten der
Poesie17 ist wohl mit das schönste, was je gedichtet ist, die Stelle
über Goethe18 ist jetzt doppelt bedeutsam. Ich kann nicht beschrei=
ben wie mich immer diese Dichter in ihrer einfachen Sprache
15 Horaz: Ars poetica, V. 372–373: „Mediocribus esse poetis Non dI, non homines, non concessere columnae.“ (Etwa: Weder Götter, Menschen noch die Säulen [Spalten eines Buchs] gestatten es den Dichtern, mittelmäßig zu sein.)
16 Im Musenanruf der Ilias, V. 1, heißt es: „Singe den zorn, o göttin, des Peleiaden Achilleus“. Dagegen in den V. 1–2 der Odyssee: „Sage mir, Muse, vom manne, dem vielgewandten, der vielfach / Umgeirrt, nachdem er die heilige Troja zerstöret“. (Zitiert nach der 1793 in 4 Bänden erschienenen Übersetzung von Johann Heinrich Voß.)
17 Ludwig Tieck: Zerbino oder Die Reise nach dem guten Geschmack, 5. Akt, 5. Szene.
18 Ebd., S. 277, Worte der Göttin: „Ein blumenvoller Hain ist zubereitet, / Für jenen Künstler, den die Nachwelt ehrt, / Mit dessen Nahmen Deutschlands Kunst erwacht, / Der Euch noch viele edle Lieder singt, / Um Euch in's Herz den Glanz der Poesie / Zu strahlen, daß Ihr künftig sie versteht; / Der große Britte hofft ihn zu umarmen, / Cervantes sehnt nach ihm sich Tag und Nacht, / Und Dante dichtet einen kühnen Gruß, / Dann wandeln diese Heil'gen vier, die Meister / Der neuen Kunst, vereint durch dies Gefilde.“
rühren, es kommt wohl mit daher, weil ich auch dabei immer
an meinen Vater denke. Wie einsam standen sie da in ihrem
Leben, und wie unverstanden nach ihrem Tode. Wie schön sagt
Cervantes: die Irdischen haben uns nie begriffen 19, das ist wohl
ein tiefes Wort, und ich bin so wenig der Meinung der Pietisten,
daß ich glaube es gehört ein wahrhaft religiöses, und vom Irdi=
schen abgewendetes Gemüth dazu, um die Dichtkunst nur begrei=
fen zu können. Darum ist ja auch fast kein einziger der gro=
ßen Dichter das gewesen, was man gewöhnlich glücklich nennt,
es ist ein von der Welt verkanntes Priesterthum. —
Mein Vater hat mit Reimer Brockhaus wegen der Rosa=
munde gesprochen, der will aber nur wenig dafür geben, er
hat nun noch an Reimer und andre geschrieben,20 ob es da vielleicht
besser geht. Es ist mir lächerlich und rührend zugleich daß durch
solche Armseeligkeiten den Menschen ein Gedicht vorenthalten wird,
das noch tausende entzücken wird, wenn wir alle längst gestorben
sind. Vater läßt Sie zugleich fragen wie weit sie mit Ihren Chaldäern21
sind? er meint wenn die gleich mit gedruckt werden könnten
gäbe es einen hübschen Band, und für das Theater sind die22
ja doch nicht. Gott erhalte Ihnen nur Gesundheit und Lust zum
Arbeiten, theuerster Freund, die Chaldäer werden gewiß eins
der herrlichsten Gedichte. Was Sie mir über das Düsseldorfer
Theater schreiben sind fromme Wünsche, an deren Ausführung
ich keinen großen Glauben habe, seit ich die Sache genauer kenne.23
Hier ist nichts Merkwürdiges vorgefallen, außer daß die Schuld
neu einstudirt ist, es gefiel aber wenig und war schon bei der
ersten Vorstellung nicht voll, die Zeit ist auch vorbei, ob es aber
besser ist, seit man den Enzio24 bewundert, weiß ich nicht.
Leben Sie nun wohl, mein aller bester Freund. Ich hätte Ihnen
schon eher geantwortet, aber ich habe den Cymbeline abgeschrieben,
das ist ein schrecklich langes Stück und hat mir viel Zeit gekostet.25 Auch
hatte ich einige Weihnachtsgeschenke zu machen. Gott schenke Ihnen ein
fröhliches Weihnachtsfest, und glückliches neues Jahr,26 das ist der innigste
Wunsch Ihrer Dorothea.
19 Aus Ludwig Tiecks Zerbino, S. 278. Eigentlich: „Die Irdischen haben uns niemahls begriffen“.
20 Tieck hatte am 11. November 1832 an Reimer geschrieben; vgl. Zeydel, et al.: Letters of Ludwig Tieck, S. 347.
21 Uechtritz begann die Babylonier in Jerusalem unter dem Titel „Die Chaldäer in Jerusalem“. Vgl. Wilhelm Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 90.
22 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 172) steht „sie“ statt „die“.
23 Nachdem Immermann 1832 einen Verein zur Reformierung des Theaters gegründet hatte, übernahm er 1834 die Intendanz des Düsseldorfer Stadttheaters, welche er bis 1837 innhatte. Diese Zeit war geprägt von Immermanns Bemühungen um eine Theaterreform, die das künstlerische Regietheater stärken sollte. Sie scheiterte jedoch an finanziellen Schwierigkeiten und Immermann kehrte an das Düsseldorfer Amtsgericht zurück.
24 Der König Enzio von Raupach wurde am 3. Oktober 1831 erstmalig im Dresdner Hoftheater gegeben. (Vgl. Prölß: Geschichte des Hoftheaters zu Dresden, S. 617.)
25 Die von Dorothea Tieck angefertigte Übersetzung des Cymbeline erschien 1833 im 9. Band von Shakspeare's dramatischen Werken. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel, ergänzt und weitergeführt von Ludwig Tieck.
26 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 172) folgt eine unmarkierte Auslassung bis zum Ende des Briefes.
27 Der folgende Absatz steht jeweils vertikal am Rande und verläuft, auf S. 1 (Bl. 1 recto) beginnend, über alle Seiten hinweg. Der erste Absatz und die Hälfte des zweiten (bis einschließlich „Verschuldung“) wurden mit Bleistift durchgestrichen.
28 Folgendes am linken Rand von S. 1 (Bl. 1 verso).
29 Folgendes am rechten Rand von S. 3 (Bl. 2 recto).
30 Folgendes am linken Rand von S. 4 (Bl. 2 verso).
31 Folgendes am linken Rand von S. 5 (Bl. 3 recto).
Sr Hochwohlgeboren
Des Preußischen Landgerichts Assors
Freiherrn Friedrich von Uichtritz
in
Düsseldorf.
am Rhein
frei
Mit großer Sehnsucht habe ich einen Brief von Ihnen erwartet: es ist recht betrübt, wenn man sich eine Zeitlang täglich gesehn und alles miteinander getheilt hat, nun plötzlich gar nichts voneinander zu wissen; der Abreisende, der viel Neues, und, wie dies bei Ihnen der Fall war, Freudiges erlebt, empfindet diesen Kummer weniger als die Zurückbleibenden. Ich dachte wohl daß Sie nicht eher als in Düsseldorf zum Schreiben kommen würden, und freute mich durch Agnes2 etwas von Ihnen zu hören. Haben Sie von uns allen den schönsten Dank für Ihren lieben Brief: Wir freuen uns recht daß die Reise Ihnen gut bekommen ist, und daß es Ihnen bei uns gefallen hat.3 Wie oft, und bei wie vielen Gelegenheiten haben wir Sie vermißt und zurück gewünscht; wir hatten kurz nach Ihrer Abreise noch so herrliches Wetter, wie schön hätten wir da die saure Milch noch essen können. Wären Sie nur länger bei uns geblieben; ich hätte gern noch über vieles mit Ihnen gesprochen, und ich glaube wir würden uns immer recht gut verstehen: Ich denke noch mit Vergnügen an Ihr Gespräch mit Baudissin über die Religion, wo ich zwar nur ein stummer Zuhörer war, Ihnen aber im Herzen so ganz beistimmen konnte. Unter uns gesagt,4 es ist für mich schwer bei uns an einem Gespräch Theil zu nehmen, weil die Gräfinn so sehr verletzbar ist, und Dinge empfindlich nimmt bei denen man es nicht begreifen kann: Sie haben es vielleicht nicht bemerkt; aber als Sie einen Morgen mit meinem Vater über den Egmont sprachen, hatte mir die
1 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 169) fehlt die Anrede.
2 Uechtritz war von Dresden über Heidersdorf und Berlin zurück nach Düsseldorf gereist. Vermutlich befand sich Agnes Tieck zum gleichen Zeitpunkt wie Uechtritz in Berlin.
3 Uechtritz hatte im September 1832 die Familie Tieck in Dresden besucht und wurde erstmals auch in ihrem Hause untergebracht.
4 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 169) fehlt „Unter uns gesagt,“.
Gräfinn die wenigen Worte die ich sagte so übel genommen daß sie mehrere Tage nicht mit mir reden wollte; so etwas suche ich natürlich zu vermeiden, und fühle mich deßhalb in ihrer Gegenwart immer genirt. Daß es sich in Berlin nicht angenehm lebt kann ich mir denken, und Sie sind gewiß in Düsseldorf5 viel glücklicher in einer gewissen Abgeschiedenheit von der Welt und doch nicht einsam; es wäre recht schön wenn wir Sie dort einmal besuchen könnten, dazu ist aber jetzt gar keine Aussicht; denn da Vater dies Jahr nichts geschrieben hat als die Eine Novelle6 wird es auch sehr am Gelde fehlen, und an kein7 Reisen zu denken seyn. Sie fragen mich weßhalb das Taschenbuch8 nicht heraus kommt: Weil er das Schreiben immer aufgeschoben hat, bis es endlich zu spät war, es ist recht schade, und geht am Ende das künftige Jahr wieder so.9 Von Ihren hiesigen Bekannten muß ich Ihnen doch erzählen: bei Baudissins10 ist Hochzeit gewesen.11 Wir waren den Polterabend dort, wo Piramus und Thisbe12 aufgeführt ward. Es ging recht gut und machte viel Vergnügen; die Scene in welcher die Handwerker zuerst zusammen kommen war mit dazu genommen,13 und bei dem Spiel selbst vor Theseus mit seinem Hofstaat, und alle Zwischenreden wurden mit gesprochen. Piramus hatte viel Dreistigkeit und Routine, was bei Dilettanten schon immer viel werth ist; Thisbe war aber ganz schlecht, und that wegen der zu großen Uebertreibung gar keine komische Wirkung. Mondschein, Wand und Löwe wurden von drei jungen Grafen Thun dargestellt und gefielen mir am besten. Der Hochzeitstag wurde gar nicht gefeiert und wir waren nur in der Kirche bei der Trauung.
5 Durch Bemühungen seiner, nun in Düsseldorf ansässigen, Berliner Bekannten Immermann und Friedrich Wilhelm von Schadow (Leiter der Düsseldorfer Kunstakademie), konnte Uechtritz im Februar 1829 von Trier an das Düsseldorfer Amtsgericht wechseln.
6 Die Ahnenprobe erschien in der Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1833.
7 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 170) steht „keine“ statt „kein“.
8 Die Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1833 erschien erst 1833. Auch der geplante „Novellenkranz. Ein Almanach auf das Jahr 1833“ wurde nicht rechtzeitig fertiggestellt, sodass der dritte Jahrgang erst 1833 als Novellenkranz. Ein Almanach auf das Jahr 1834 erscheinen konnte.
9 Bei Sybel: Erinnerungen folgt eine markierte Auslassung bis einschließlich „kommen nun nach“ (S. 3 (Bl. 2 recto)).
10 Wolf Heinrich von Baudissin, seine Frau Friederike Juliane und deren Adoptivtochter Isabella.
11 Baudissins Nichte und Adoptivtochter Isabella heiratete den Franzosen Armand de Cubières. Die Ehe wurde 1844 wieder geschieden. (Vgl. Goldmann: Wolf Heinrich Graf Baudissin, S. 79.)
12 Die Sage von Pyramus und Thisbe verarbeitete Ovid in seinen Metamorphosen. Shakespeare übernahm das Stück als parodistisches „Spiel im Spiel“ in den Sommernachtstraum, wo es eine Gruppe von Handwerkern auf der Hochzeit von Theseus und Hippolyta aufführt.
13 Shakespeares Sommernachtstraum, 1. Akt, 2. Szene. (Vgl. Shakspeare's dramatische Werke. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel, ergänzt und erläutert von Ludwig Tieck, Bd. 3, 1830, S. 197–259.)
Dieser französische Mann und Schwiegersohn hat in unsern Umgang mit Baudissins eine große Störung gebracht: er kann kein Deutsch lernen, nicht einmal so viel daß er eine Vorlesung oder ein Gespräch versteht, und uns allen ist das Französische zu fremd und wenig geläufig. Es ist schade um das Mädchen: ich begreife gar nicht wie man einen Franzosen lieben und heirathen kann. Sternberg ist seit einiger Zeit nicht bei uns gewesen, weil er immer kränkelt, die bösen Folgen daß er Karlsbad14 nicht ordentlich gebraucht hat kommen nun nach. Wir sind alle wohl und leben sehr still, besonders ich; ich gehe viel spatzieren aber selten zu Menschen, die Lüttichau ist die einzige die ich oft und gern sehe. Sie werden das wieder Menschenhaß nennen, aber Sie haben doch eigentlich Unrecht. Was nutzt es mit Menschen zusammen zu kommen und Dinge zu sprechen die für keinen von beiden ein Interesse haben? Selbst der Umgang mit den Menschen die man liebt giebt oft so viel mehr Schmerzen als Freuden: wie oft wird man in den besten Empfindungen grade mißverstanden, und von denen, denen man ein volles Vertrauen entgegen bringt, kalt und abstoßend behandelt. Die Leiden, die aus solchen Erfahrungen entspringen sind doch wohl mehr der Menschenliebe als dem Haß zuzuschreiben. Ich will auch gern die Schuld allein auf mich nehmen, wohl mag mir die unentbehrliche Leichtigkeit im Umgang fehlen, so nehme ich denn alles zu ernst, und verletze vielleicht oft andre, gerade wenn ich es am besten meine, aber Sie müssen mir doch zugeben daß man dafür nicht kann. Auch bin ich jetzt fast immer heiter und recht innerlich in mir selbst vergnügt. Die äußere Einsamkeit hat doch deßhalb einen großen
14 Gemeint sind die Karlsbader Heilquellen.
Werth, weil sie die innere Einsamkeit und Sammlung des Gemüths begünstigt, und wie viel leichter wendet sich wieder in dieser Sammlung unsere Seele zu Gott, der allein durch seine innere Gegenwart jede Sehnsucht befriedigen kann. Ich habe nun die Briefe von Horaz auch gelesen, und finde sie noch schöner als seine übrigen Gedichte, auch die Ars poetica hat mir sehr gefallen. Zwar können diese Vorschriften keinen Dichter bilden, doch ist viel Lehrreiches darin. Daß es in der Poesie keine Mittelmäßigkeit giebt, und der welcher nicht die Höhe erreicht Göttern und Menschen verhaßt ist, ist ein schönes Wort.15 Die Ilias habe ich nun auch geendigt, und erst seit ich sie griechisch gelesen habe, ist es mir als kenn ich sie, ich bin ganz glücklich ganz entzückt gewesen, fast immer wenn ich darin las, und sie scheint mir doch höher zu stehn als die Odüssee. Halten Sie es wohl für einen bloßen Zufall, daß in diesem Gedicht die Muse zum Erzählen, in jenem zum Singen aufgefordert wird?16 Die Lusiade habe ich gelesen, ich kann aber noch zu wenig Portugiesisch und habe mich zu viel mit der Grammatik und einem schlechten Wörterbuch dabei quälen müssen um die Schönheit recht zu genießen, ich werde sie nun wieder von vorn anfangen. Vor kurzem hat Vater uns in zwei Abenden den Zerbino vorgelesen: es ist doch ein herrliches Gedicht, und fast nirgends die Poesie so als das aufgestellt was sie ist: der Trost des Lebens, der Schmuck der Welt. Der Garten der Poesie17 ist wohl mit das schönste, was je gedichtet ist, die Stelle über Goethe18 ist jetzt doppelt bedeutsam. Ich kann nicht beschreiben wie mich immer diese Dichter in ihrer einfachen Sprache
15 Horaz: Ars poetica, V. 372–373: „Mediocribus esse poetis Non dI, non homines, non concessere columnae.“ (Etwa: Weder Götter, Menschen noch die Säulen [Spalten eines Buchs] gestatten es den Dichtern, mittelmäßig zu sein.)
16 Im Musenanruf der Ilias, V. 1, heißt es: „Singe den zorn, o göttin, des Peleiaden Achilleus“. Dagegen in den V. 1–2 der Odyssee: „Sage mir, Muse, vom manne, dem vielgewandten, der vielfach / Umgeirrt, nachdem er die heilige Troja zerstöret“. (Zitiert nach der 1793 in 4 Bänden erschienenen Übersetzung von Johann Heinrich Voß.)
17 Ludwig Tieck: Zerbino oder Die Reise nach dem guten Geschmack, 5. Akt, 5. Szene.
18 Ebd., S. 277, Worte der Göttin: „Ein blumenvoller Hain ist zubereitet, / Für jenen Künstler, den die Nachwelt ehrt, / Mit dessen Nahmen Deutschlands Kunst erwacht, / Der Euch noch viele edle Lieder singt, / Um Euch in's Herz den Glanz der Poesie / Zu strahlen, daß Ihr künftig sie versteht; / Der große Britte hofft ihn zu umarmen, / Cervantes sehnt nach ihm sich Tag und Nacht, / Und Dante dichtet einen kühnen Gruß, / Dann wandeln diese Heil'gen vier, die Meister / Der neuen Kunst, vereint durch dies Gefilde.“
rühren, es kommt wohl mit daher, weil ich auch dabei immer an meinen Vater denke. Wie einsam standen sie da in ihrem Leben, und wie unverstanden nach ihrem Tode. Wie schön sagt Cervantes: die Irdischen haben uns nie begriffen 19, das ist wohl ein tiefes Wort, und ich bin so wenig der Meinung der Pietisten, daß ich glaube es gehört ein wahrhaft religiöses, und vom Irdischen abgewendetes Gemüth dazu, um die Dichtkunst nur begreifen zu können. Darum ist ja auch fast kein einziger der großen Dichter das gewesen, was man gewöhnlich glücklich nennt, es ist ein von der Welt verkanntes Priesterthum. —
Mein Vater hat mit Brockhaus wegen der Rosamunde gesprochen, der will aber nur wenig dafür geben, er hat nun noch an Reimer und andre geschrieben,20 ob es da vielleicht besser geht. Es ist mir lächerlich und rührend zugleich daß durch solche Armseeligkeiten den Menschen ein Gedicht vorenthalten wird, das noch tausende entzücken wird, wenn wir alle längst gestorben sind. Vater läßt Sie zugleich fragen wie weit sie mit Ihren Chaldäern21 sind? er meint wenn die gleich mit gedruckt werden könnten gäbe es einen hübschen Band, und für das Theater sind die22 ja doch nicht. Gott erhalte Ihnen nur Gesundheit und Lust zum Arbeiten, theuerster Freund, die Chaldäer werden gewiß eins der herrlichsten Gedichte. Was Sie mir über das Düsseldorfer Theater schreiben sind fromme Wünsche, an deren Ausführung ich keinen großen Glauben habe, seit ich die Sache genauer kenne.23 Hier ist nichts Merkwürdiges vorgefallen, außer daß die Schuld neu einstudirt ist, es gefiel aber wenig und war schon bei der ersten Vorstellung nicht voll, die Zeit ist auch vorbei, ob es aber besser ist, seit man den Enzio24 bewundert, weiß ich nicht.
Leben Sie nun wohl, mein aller bester Freund. Ich hätte Ihnen schon eher geantwortet, aber ich habe den Cymbeline abgeschrieben, das ist ein schrecklich langes Stück und hat mir viel Zeit gekostet.25 Auch hatte ich einige Weihnachtsgeschenke zu machen. Gott schenke Ihnen ein fröhliches Weihnachtsfest, und glückliches neues Jahr,26 das ist der innigste Wunsch Ihrer Dorothea.
27 Schreiben Sie mir doch ob Sie die Wilhelmine in der Urania gelesen haben und was Sie davon denken. 28Die Gley heirathet nun den Schauspieler Rettich, sie hat es uns selbst geschrieben und wir haben wieder mehrere Briefe gewechselt. Ich glaube nicht daß sie so schlecht ist wie man in Berlin von ihr spricht, wie Agnes mir sagte. Rettich soll ein sehr rechtlicher Mensch seyn 29+ und hätte sich doch nicht gleich mit ihr versprochen. Es können doch wohl zwei Menschen einsehen daß sie sich geirrt haben und nicht für einander passen, eher daß eine große Verschuldung φ 30φ von einer Seite statt finden muß. Das Beste ist, daß die Gley vom 1ten Juli an wieder für das hiesige Theater engagiert ist. Gestern kam der unterschriebene Contrackt an. 31Schreiben Sie ja recht bald wieder. Alle tragen mir viel herzliche Grüße auf das versteht sich von selbst. Grüßen Sie auch Immermann19 Aus Ludwig Tiecks Zerbino, S. 278. Eigentlich: „Die Irdischen haben uns niemahls begriffen“.
20 Tieck hatte am 11. November 1832 an Reimer geschrieben; vgl. Zeydel, et al.: Letters of Ludwig Tieck, S. 347.
21 Uechtritz begann die Babylonier in Jerusalem unter dem Titel „Die Chaldäer in Jerusalem“. Vgl. Wilhelm Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 90.
22 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 172) steht „sie“ statt „die“.
23 Nachdem Immermann 1832 einen Verein zur Reformierung des Theaters gegründet hatte, übernahm er 1834 die Intendanz des Düsseldorfer Stadttheaters, welche er bis 1837 innhatte. Diese Zeit war geprägt von Immermanns Bemühungen um eine Theaterreform, die das künstlerische Regietheater stärken sollte. Sie scheiterte jedoch an finanziellen Schwierigkeiten und Immermann kehrte an das Düsseldorfer Amtsgericht zurück.
24 Der König Enzio von Raupach wurde am 3. Oktober 1831 erstmalig im Dresdner Hoftheater gegeben. (Vgl. Prölß: Geschichte des Hoftheaters zu Dresden, S. 617.)
25 Die von Dorothea Tieck angefertigte Übersetzung des Cymbeline erschien 1833 im 9. Band von Shakspeare's dramatischen Werken. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel, ergänzt und weitergeführt von Ludwig Tieck.
26 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 172) folgt eine unmarkierte Auslassung bis zum Ende des Briefes.
27 Der folgende Absatz steht jeweils vertikal am Rande und verläuft, auf S. 1 (Bl. 1 recto) beginnend, über alle Seiten hinweg. Der erste Absatz und die Hälfte des zweiten (bis einschließlich „Verschuldung“) wurden mit Bleistift durchgestrichen.
28 Folgendes am linken Rand von S. 1 (Bl. 1 verso).
29 Folgendes am rechten Rand von S. 3 (Bl. 2 recto).
30 Folgendes am linken Rand von S. 4 (Bl. 2 verso).
31 Folgendes am linken Rand von S. 5 (Bl. 3 recto).
Seiner Hochwohlgeboren
Des Preußischen Landgerichts Assors
Freiherrn Friedrich von Uichtritz
in
Düsseldorf.
am Rhein
frei