
Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz
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Indem ich eben Ihren letzten Brief wieder
lese sehe ich daß er schon recht alt ist, und
ich in eine größere Schuld gegen Sie ge=
rathen bin als ich dachte: Es sind aber
wirklich nur Geschäfte, die mich am Schreiben
gehindert haben; denn schriebe ich so oft
als ich es gern thäte, so würde es Ihnen
zu viel werden. Wenn Sie es noch nicht ge=
hört haben daß ich mit an der Ueber=
setzung des Shakespear arbeite, so ver=
traue ich es Ihnen hiermit als ein Geheim=
niß an.2 Leider ist es in Berlin bekan̄t,
wie meine Schwester mir gesagt hat,
das ist mir unangenehm, und ich weiß
auch nicht wie es zugeht; Reimer, der
es freilich wissen mußte, hat doch wohl
davon gesprochen. Ich habe es keinem
Menschen gesagt, und bitte auch Sie sehr
ernstlich darum; lassen Sie es sich auch
nicht gegen meinen Vater merken, den̄
1 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 172) fehlt die Anrede.
2 Nachdem 1830 Ludwig Tiecks Unternehmen einer Neuauflage der Schlegelschen Shakespeare-Übersetzung nach drei Bänden (Bd. 1, 2 und 4) ins Stocken geraten war, griff er für die bislang noch nicht von Schlegel übersetzten Stücke auf die Hilfe von Dorothea und Wolf Graf Baudissin zurück. Unter Dorotheas Feder entstanden seit 1830 die Übersetzung von Coriolanus (Bd. 5, 1831), Die beiden Veroneser, Timon von Athen (beide Bd. 7, 1831), Das Wintermährchen (Bd. 8, 1832), Cymbeline und Macbeth (beide Bd. 9, 1833). Gemeinsam mit Baudissin übersetzte sie Viel Lärmen um Nichts (Bd. 3, 1830) und Der Widerspenstigen Zähmung (Bd. 6, 1831). Doch Dorothea und Baudissin wurden an keiner Stelle als Übersetzer genannt; erst im Nachwort zum 9. Band bedankt sich Ludwig Tieck bei seinen „fleißigen Mitarbeiter[n]“ (S. 415) und erwähnt auch Baudissin namentlich. Dorothea bleibt jedoch als „jüngere[r] Gehülfe“ (S. 416) weiterhin ungenannt.
a
er würde böse seyn, daß ich es Ihnen ge=
sagt habe. Aber es giebt so wenige
Menschen die wirklich Antheil an mir neh=
men; ich rechne Sie zu diesen Wenigen, und
darum ist es mir Bedürfniß Ihnen Allesmitzuhe mitzutheilen was ich thue und trei=
be. Die Arbeit die mich länger als drei
Jahre beschäftigt, und mir so viel Freude
gemacht hat, ist nun bald geendigt.3 Seit
Neujahr bin ich mit dem Macbeth beschäf=
tigt, das ist das letzte der mir zuge=
theilten Stücke,4 ich bin nun schon beim Ab=
schreiben, und weil ich darin keine große
Fertigkeit habe, kostet es mir viel Zeit,.dDies also als Entschuldigung für mein
langes Schweigen. Ich kann Ihnen nicht
sagen welche5 großes Vergnügen mir die
Arbeit gemacht hat; wenn man selbst
nichts erschaffen kann ist es doch gewiß
der größte Genuß sich in die Schöpfung
eines großen Geistes so ganz zu ver=
tiefen, wie man es beim Uebersetzen
3 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 173) steht „beendigt“ statt „geendigt“.
4 Die Übersetzung des Macbeth erschien im 1833 im 9. und letzten Band der Schlegel-Tieck'schen Shakespeare-Übersetzung.
5 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 173) steht „welch“ statt „welche“.
thun muß: Jedes Stück an dem man eben
arbeitet erscheint einem als das schönste
und jeden Charakter gewinnt man lieb
als hätte man ihn persönlich gekannt,
das ist aber auch die einzige Freude,
denn gerade wenn man das Original
so genau kennt kann man nie glauben
daß eine die Uebersetzung eine gelungene
Arbeit seyn kann., und man fühlt nur
wie viel verlohren geht. Erst habe ich
immer jedes Stück für mich ganz fertig
gemacht, und dann meinem Vater vor=
geslesen, wobei denn natürlich noch sehr
vieles verändert ist. Die große Mühe
die wir angewendet haben wird wohl
nie jemand darin wieder finden; bei
an dem großen Monolog des Macbeth
z. B. haben wir drei Tage corrigirt,
und jedes mal eine Stunde. Auch bei
den Stücken6 die Baudissin übersetzt
hat, habe ich fast immer den Corrigir=
stunden beigewohnt7 und dadurch viel
6 Wolf Graf Baudissin übersetzte König Heinrich VIII., Viel Lärmen um Nichts (zus. mit Dorothea Tieck), Antonius und Cleopatra, Maaß für Maaß, Titus Andronicus, Der Widerspenstigen Zähmung (zus. mit Dorothea Tieck), Die Comödie der Irrungen, Ende gut, Alles gut, Troilus und Cressida, Die lustigen Weiber von Windsor, Othello, König Lear und Liebes Leid und Lust.
7 Baudissin beschreibt den Vorgang in einem Brief aus dem Jahre 1867 rückblickend auf ähnliche Weise: „Tag für Tag von halb zwölf bis Ein Uhr fanden wir uns in Tiecks Bibliothekszimmer ein: wer ein Stück fertig hatte, las es vor, die zwei anderen Mitglieder unseres Collegiums verglichen den Vortrag mit dem Original, u. approbirten, schlugen Änderungen vor, oder verwarfen. Mehr als einmal ward eine halbe Stunde lang über einen einzelnen Ausdruck debattirt;“ (Shakespeare-Jahrbuch 71, S. 108.)
Englisch gelernt, besonders Shakspear's
Sprache.
Was Sie mir darüber schreiben daß Sie
sich oft einsam fühlen verstehe ich ganz,
glauben Sie nicht daß ich darin Klage
oder Unzufriedenheit sehe. Auch ich fühle
mich immer einsamer, je älter ich werde,
ich habe auch mehr Mißtrauen gegen die
Menschen, was mir gar nicht lieb ist, und
für mich ein quälendes Gefühl, weil es
gar nicht zu meinem Charakter paßt
Mit Baudissins waren wir sonst fast
täglich, und jetzt sehen wir uns höchstens
alle paar Wochen einmal; obgleich wir
freundlich mit einander sind wie sonst
und nichts vorgefallen ist, so ist es doch
eine schmerzliche Erfahrung, daß ein
Verhältniß was man für so fest ge=
halten hat so locker werden kann.
Die Lüttichau ist die einzige die sich im=
mer gleich bleibt, und der ich unbedingt
vertraue, darum will ich auch nicht
klagen; denn es ist wohl genug im Leben
Eine Seele gefunden zu haben, mit der
man alles theilen kann und von der
man immer verstanden wird. Daß Sie
so fern von Ihren Eltern8 sind muß Ih=
nen sehr traurig seyn, sie müssen doch
auch schon alt seyn, und wenn man so
sehen muß wie sie schwächer werden, dan̄ ist
die Liebe zu den Eltern ein wahrhaft
herzzerreißendes Gefühl. Es ist wohl
ein großer Mangel an Frömmigkeit und
Ergebung in mir, aber ich kann den Ge=
danken sie je zu verlieren gar nicht
ertragen, und ich suche mich nur immer
damit zu trösten, daß ich doch vielleicht
eher sterbe.
Löbel kommt auf einige Tage her, und
wird oben in Ihrer kleinen Stube9 wohnen,
ich freue mich sehr ihn einmal wieder zu
sehn. Gegen Ostern kommt auch Raumer,
dem soll es immer noch sehr schlecht gehn.10
Was diesen Sommer über uns bestim̄t
8 Friedrich Joseph Peter von Uechtritz und seine Frau Friederike Auguste Charlotte in Heidersdorf (Niederschlesien) bei Görlitz.
9 Die Dachkammer in der 5. Etage, die auch Uechtritz (seit 1832) stets bei einem Aufenthalt in Dresden bewohnte.
10 Im Juli 1832 waren Raumers Schwestern Agnes und Louise gestorben. Vgl. den Brief Ludwig Tiecks an Raumer vom 5. oder 7. August 1832, S. 1 (Bl. 1 recto), bearb. v. Johanna Preusse, in: Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800.
ist, und ob wir eine Reise11 machen weiß ich
noch gar nicht, Vater spricht von so etwas im=
mer erst wenn es geschieht; er ist im Ganzen
den Winter sehr wohl gewesen, hatte auch
eine neue Novelle12 angefangen, da bekam
er eine Halskrankheit und heftigen
Cathar der ihn sehr angriff, nun ist die
Arbeit wieder unterbrochen. Es ist wohl
ein wahres Unglück daß er nicht fleißiger
seyn kann, wie Vieles wird der Welt dadurch
entzogen. Reimer bekommt die Rosamunde
auf keinen Fall, Vater ist mit Brockhaus
in Unterhandlungen; sie können aber
noch nicht einig werden, weil der gar so
wenig geben will. Der Alexander13 ist hier
noch nicht wieder aufgeführt, es wäre auch
unpassend ihn ohne die Gley einzustudiren
sobald sie hier ist wird er gewiß so
schnell als möglich gegeben, beide Devrients
sind sehr dafür. Für mich ist es eine
Art von Beruhigung daß Sie den Spar=
tacus erst vollenden,14 Sie wissen daß ich
11 Im Juli/August 1833 unternahmen Amalia, Agnes und Dorothea Tieck eine Reise nach Schlesien zu den Verwandten Amalia Tiecks. Ludwig Tieck blieb in Dresden, um zu arbeiten. Vgl. Brief vom 22. Juli 1833, S. 1 (Bl. 1 recto).
12 Vermutlich handelt es sich um die einzige, 1833 veröffentlichte Novelle Eine Sommerreise, die Tieck im August 1833 fertigstellte.
13 Uechtritz' Trauerspiel Alexander und Darius wurde am 28. Februar 1826 am Dresdner Hoftheater uraufgeführt. Es erlebte 6 weitere Aufführungen. (Vgl. Prölß: Geschichte des Hoftheaters zu Dresden, S. 616.)
14 Uechtritz überarbeitete sein 1823 erschienenes Trauerspiel Rom und Spartacus, stellte diese zweite Fassung jedoch nicht fertig. (Vgl. Wilhelm Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 40.)
ihn nicht gleich so auffassen konnte wie die
Chaldäer,15 Vater meint Sie möchten sich nicht
zu sehr mit orientalischen Studien aufhalten
so wie Sie das Gedicht angelegt hätten schie=
ne ihm dies nicht nothwendig.
Neulich habe ich die Zeichnung16 von einem
neu ausgegrabenen Mosaikbild17 in Pom=
peji gesehn. Es soll die Schlacht bei Arbela18
vorstellen, in dem Augenblick wo der Sieg
sich für Alexander entscheidet, es ist ein
ganz herrliches Blatt, Zeichnung und Aus=
druck wie in Raphaels Constantinschlacht.19
Ich habe dabei recht lebhaft an Ihr Gedicht
gedacht. Es ist zu verwundern daß nicht öfter
Dichter wie bildenke20 Künstler Alexander
zu ihrem Gegenstand gewählt haben, mir
scheint nichts könnte so sehr begeistern,
da er so ganz einzig in der Geschichte da=
steht. Ich möchte nur Karl den Großen
mit ihm vergleichen, was jener für die
Welt war dieser für Deutschland, und
beide wirkten wohl in einem ähnlichen
15 Uechtritz begann die Babylonier in Jerusalem unter dem Titel „Die Chaldäer in Jerusalem“. (Vgl. Wilhelm Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 90.)
16 Goethe erhielt am 18. Februar 1832 eine Zeichnung des soeben unter der Leitung von Wilhelm Zahn in Pompeji entdeckten Mosaiks (vgl. folgende Anmerkung). Das Gebäude wurde ihm zu Ehren „Casa di Goethe“ genannt, ist heute jedoch unter dem Namen „Casa del Fauno“ bekannt. Ob es sich um diese Zeichnung handelt, ist unsicher.
17 Der aus dem 2. Jh. v. Chr. stammende, als Alexandermosaik bekannte Mosaikfußboden wurde 1831 bei Ausgrabungen in Pompeji entdeckt, er befindet sich heute im Nationalmuseum in Neapel.
18 Bekannt als „Schlacht von Gaugamela“, in der Alexander der Große den Perserkönig Dareios besiegte.
19 Die Konstantinsschlacht gehört zu den sog. Stanzen des Raffael (Fresken in den Gemächern des Apostolischen Palasts im Vatikan). Allerdings stammt nur der Entwurf von Raffel selbst, ausgeführt wurde dieser von seinem Schüler Giulio Romano.
20 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 175) steht „bildende“ statt „bildenke“.
Sinn. Wenn man bedenkt wie Alexander
mittelbar durch Verbreitung griechischer
Sprache und Bildung auch auf die Ausbrei=
tung des Christenthums gewirkt hat, so
ist er auch in dem Sinn eine große Erschei=
nung. Sie haben es für immer fest gestellt
wie er gedacht und dargestellt werden
muß, und ich glaube nicht daß nach Ihnen
sich noch jemand daran wagen kann.
Die Generalin Lüzow21 hat sich in einem
Brief an die Solger22 sehr boshaft über
unsern Briefwechsel geäußert, und diese
die die Lüzow23 sehr verehrt, hat gleich in
demselben Ton gegen unsre Gräfinn wieder
davon gesprochen. Meine Eltern sind zum
Glück zu vernünftig als daß solche Klat=
schereien ihnen wichtig seyn könnten; ich
habe mich aber doch sehr geärgert, daß
man auch das Einfachste und Unschuldigste
nicht thun kann ohne daß andre Leute sich
darum bekümmern.24 x
21 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 175) steht „L.“ statt „Lüzow“.
22 Bei Sybel: Erinnerungen steht „S.“ statt „Solger“.
23 Bei Sybel: Erinnerungen steht „L.“ statt „Lüzow“.
24 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 175) steht „kümmern“ statt „bekümmern“.
25 Bei Sybel: Erinnerungen folgt eine unmarkierte Auslassung bis zum Ende des Briefs.
Indem ich eben Ihren letzten Brief wieder lese sehe ich daß er schon recht alt ist, und ich in eine größere Schuld gegen Sie gerathen bin als ich dachte: Es sind aber wirklich nur Geschäfte, die mich am Schreiben gehindert haben; denn schriebe ich so oft als ich es gern thäte, so würde es Ihnen zu viel werden. Wenn Sie es noch nicht gehört haben daß ich mit an der Uebersetzung des Shakespear arbeite, so vertraue ich es Ihnen hiermit als ein Geheimniß an.2 Leider ist es in Berlin bekannt, wie meine Schwester mir gesagt hat, das ist mir unangenehm, und ich weiß auch nicht wie es zugeht; Reimer, der es freilich wissen mußte, hat doch wohl davon gesprochen. Ich habe es keinem Menschen gesagt, und bitte auch Sie sehr ernstlich darum; lassen Sie es sich auch nicht gegen meinen Vater merken, denn
1 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 172) fehlt die Anrede.
2 Nachdem 1830 Ludwig Tiecks Unternehmen einer Neuauflage der Schlegelschen Shakespeare-Übersetzung nach drei Bänden (Bd. 1, 2 und 4) ins Stocken geraten war, griff er für die bislang noch nicht von Schlegel übersetzten Stücke auf die Hilfe von Dorothea und Wolf Graf Baudissin zurück. Unter Dorotheas Feder entstanden seit 1830 die Übersetzung von Coriolanus (Bd. 5, 1831), Die beiden Veroneser, Timon von Athen (beide Bd. 7, 1831), Das Wintermährchen (Bd. 8, 1832), Cymbeline und Macbeth (beide Bd. 9, 1833). Gemeinsam mit Baudissin übersetzte sie Viel Lärmen um Nichts (Bd. 3, 1830) und Der Widerspenstigen Zähmung (Bd. 6, 1831). Doch Dorothea und Baudissin wurden an keiner Stelle als Übersetzer genannt; erst im Nachwort zum 9. Band bedankt sich Ludwig Tieck bei seinen „fleißigen Mitarbeiter[n]“ (S. 415) und erwähnt auch Baudissin namentlich. Dorothea bleibt jedoch als „jüngere[r] Gehülfe“ (S. 416) weiterhin ungenannt.
a er würde böse seyn, daß ich es Ihnen gesagt habe. Aber es giebt so wenige Menschen die wirklich Antheil an mir nehmen; ich rechne Sie zu diesen Wenigen, und darum ist es mir Bedürfniß Ihnen Alles mitzutheilen was ich thue und treibe. Die Arbeit die mich länger als drei Jahre beschäftigt, und mir so viel Freude gemacht hat, ist nun bald geendigt.3 Seit Neujahr bin ich mit dem Macbeth beschäftigt, das ist das letzte der mir zugetheilten Stücke,4 ich bin nun schon beim Abschreiben, und weil ich darin keine große Fertigkeit habe, kostet es mir viel Zeit. Dies also als Entschuldigung für mein langes Schweigen. Ich kann Ihnen nicht sagen welche5 großes Vergnügen mir die Arbeit gemacht hat; wenn man selbst nichts erschaffen kann ist es doch gewiß der größte Genuß sich in die Schöpfung eines großen Geistes so ganz zu vertiefen, wie man es beim Uebersetzen
3 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 173) steht „beendigt“ statt „geendigt“.
4 Die Übersetzung des Macbeth erschien im 1833 im 9. und letzten Band der Schlegel-Tieck'schen Shakespeare-Übersetzung.
5 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 173) steht „welch“ statt „welche“.
thun muß: Jedes Stück an dem man eben arbeitet erscheint einem als das schönste und jeden Charakter gewinnt man lieb als hätte man ihn persönlich gekannt, das ist aber auch die einzige Freude, denn gerade wenn man das Original so genau kennt kann man nie glauben daß die Uebersetzung eine gelungene Arbeit seyn kann, und man fühlt nur wie viel verlohren geht. Erst habe ich immer jedes Stück für mich ganz fertig gemacht, und dann meinem Vater vorgelesen, wobei denn natürlich noch sehr vieles verändert ist. Die große Mühe die wir angewendet haben wird wohl nie jemand darin wieder finden; an dem großen Monolog des Macbeth zum Beispiel haben wir drei Tage corrigirt, und jedes mal eine Stunde. Auch bei den Stücken6 die Baudissin übersetzt hat, habe ich fast immer den Corrigirstunden beigewohnt7 und dadurch viel
6 Wolf Graf Baudissin übersetzte König Heinrich VIII., Viel Lärmen um Nichts (zus. mit Dorothea Tieck), Antonius und Cleopatra, Maaß für Maaß, Titus Andronicus, Der Widerspenstigen Zähmung (zus. mit Dorothea Tieck), Die Comödie der Irrungen, Ende gut, Alles gut, Troilus und Cressida, Die lustigen Weiber von Windsor, Othello, König Lear und Liebes Leid und Lust.
7 Baudissin beschreibt den Vorgang in einem Brief aus dem Jahre 1867 rückblickend auf ähnliche Weise: „Tag für Tag von halb zwölf bis Ein Uhr fanden wir uns in Tiecks Bibliothekszimmer ein: wer ein Stück fertig hatte, las es vor, die zwei anderen Mitglieder unseres Collegiums verglichen den Vortrag mit dem Original, u. approbirten, schlugen Änderungen vor, oder verwarfen. Mehr als einmal ward eine halbe Stunde lang über einen einzelnen Ausdruck debattirt;“ (Shakespeare-Jahrbuch 71, S. 108.)
Englisch gelernt, besonders Shakspear's Sprache.
Was Sie mir darüber schreiben daß Sie sich oft einsam fühlen verstehe ich ganz, glauben Sie nicht daß ich darin Klage oder Unzufriedenheit sehe. Auch ich fühle mich immer einsamer, je älter ich werde, ich habe auch mehr Mißtrauen gegen die Menschen, was mir gar nicht lieb ist, und für mich ein quälendes Gefühl, weil es gar nicht zu meinem Charakter paßt Mit Baudissins waren wir sonst fast täglich, und jetzt sehen wir uns höchstens alle paar Wochen einmal; obgleich wir freundlich mit einander sind wie sonst und nichts vorgefallen ist, so ist es doch eine schmerzliche Erfahrung, daß ein Verhältniß was man für so fest gehalten hat so locker werden kann. Die Lüttichau ist die einzige die sich immer gleich bleibt, und der ich unbedingt vertraue, darum will ich auch nicht
klagen; denn es ist wohl genug im Leben Eine Seele gefunden zu haben, mit der man alles theilen kann und von der man immer verstanden wird. Daß Sie so fern von Ihren Eltern8 sind muß Ihnen sehr traurig seyn, sie müssen doch auch schon alt seyn, und wenn man so sehen muß wie sie schwächer werden, dann ist die Liebe zu den Eltern ein wahrhaft herzzerreißendes Gefühl. Es ist wohl ein großer Mangel an Frömmigkeit und Ergebung in mir, aber ich kann den Gedanken sie je zu verlieren gar nicht ertragen, und ich suche mich nur immer damit zu trösten, daß ich doch vielleicht eher sterbe.
Löbel kommt auf einige Tage her, und wird oben in Ihrer kleinen Stube9 wohnen, ich freue mich sehr ihn einmal wieder zu sehn. Gegen Ostern kommt auch Raumer, dem soll es immer noch sehr schlecht gehn.10 Was diesen Sommer über uns bestimmt
8 Friedrich Joseph Peter von Uechtritz und seine Frau Friederike Auguste Charlotte in Heidersdorf (Niederschlesien) bei Görlitz.
9 Die Dachkammer in der 5. Etage, die auch Uechtritz (seit 1832) stets bei einem Aufenthalt in Dresden bewohnte.
10 Im Juli 1832 waren Raumers Schwestern Agnes und Louise gestorben. Vgl. den Brief Ludwig Tiecks an Raumer vom 5. oder 7. August 1832, S. 1 (Bl. 1 recto), bearb. v. Johanna Preusse, in: Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800.
ist, und ob wir eine Reise11 machen weiß ich noch gar nicht, Vater spricht von so etwas immer erst wenn es geschieht; er ist im Ganzen den Winter sehr wohl gewesen, hatte auch eine neue Novelle12 angefangen, da bekam er eine Halskrankheit und heftigen Cathar der ihn sehr angriff, nun ist die Arbeit wieder unterbrochen. Es ist wohl ein wahres Unglück daß er nicht fleißiger seyn kann, wie Vieles wird der Welt dadurch entzogen. Reimer bekommt die Rosamunde auf keinen Fall, Vater ist mit Brockhaus in Unterhandlungen; sie können aber noch nicht einig werden, weil der gar so wenig geben will. Der Alexander13 ist hier noch nicht wieder aufgeführt, es wäre auch unpassend ihn ohne die Gley einzustudiren sobald sie hier ist wird er gewiß so schnell als möglich gegeben, beide Devrients sind sehr dafür. Für mich ist es eine Art von Beruhigung daß Sie den Spartacus erst vollenden,14 Sie wissen daß ich
11 Im Juli/August 1833 unternahmen Amalia, Agnes und Dorothea Tieck eine Reise nach Schlesien zu den Verwandten Amalia Tiecks. Ludwig Tieck blieb in Dresden, um zu arbeiten. Vgl. Brief vom 22. Juli 1833, S. 1 (Bl. 1 recto).
12 Vermutlich handelt es sich um die einzige, 1833 veröffentlichte Novelle Eine Sommerreise, die Tieck im August 1833 fertigstellte.
13 Uechtritz' Trauerspiel Alexander und Darius wurde am 28. Februar 1826 am Dresdner Hoftheater uraufgeführt. Es erlebte 6 weitere Aufführungen. (Vgl. Prölß: Geschichte des Hoftheaters zu Dresden, S. 616.)
14 Uechtritz überarbeitete sein 1823 erschienenes Trauerspiel Rom und Spartacus, stellte diese zweite Fassung jedoch nicht fertig. (Vgl. Wilhelm Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 40.)
ihn nicht gleich so auffassen konnte wie die Chaldäer,15 Vater meint Sie möchten sich nicht zu sehr mit orientalischen Studien aufhalten so wie Sie das Gedicht angelegt hätten schiene ihm dies nicht nothwendig.
Neulich habe ich die Zeichnung16 von einem neu ausgegrabenen Mosaikbild17 in Pompeji gesehn. Es soll die Schlacht bei Arbela18 vorstellen, in dem Augenblick wo der Sieg sich für Alexander entscheidet, es ist ein ganz herrliches Blatt, Zeichnung und Ausdruck wie in Raphaels Constantinschlacht.19 Ich habe dabei recht lebhaft an Ihr Gedicht gedacht. Es ist zu verwundern daß nicht öfter Dichter wie bildenke20 Künstler Alexander zu ihrem Gegenstand gewählt haben, mir scheint nichts könnte so sehr begeistern, da er so ganz einzig in der Geschichte dasteht. Ich möchte nur Karl den Großen mit ihm vergleichen, was jener für die Welt war dieser für Deutschland, und beide wirkten wohl in einem ähnlichen
15 Uechtritz begann die Babylonier in Jerusalem unter dem Titel „Die Chaldäer in Jerusalem“. (Vgl. Wilhelm Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 90.)
16 Goethe erhielt am 18. Februar 1832 eine Zeichnung des soeben unter der Leitung von Wilhelm Zahn in Pompeji entdeckten Mosaiks (vgl. folgende Anmerkung). Das Gebäude wurde ihm zu Ehren „Casa di Goethe“ genannt, ist heute jedoch unter dem Namen „Casa del Fauno“ bekannt. Ob es sich um diese Zeichnung handelt, ist unsicher.
17 Der aus dem 2. Jh. v. Chr. stammende, als Alexandermosaik bekannte Mosaikfußboden wurde 1831 bei Ausgrabungen in Pompeji entdeckt, er befindet sich heute im Nationalmuseum in Neapel.
18 Bekannt als „Schlacht von Gaugamela“, in der Alexander der Große den Perserkönig Dareios besiegte.
19 Die Konstantinsschlacht gehört zu den sog. Stanzen des Raffael (Fresken in den Gemächern des Apostolischen Palasts im Vatikan). Allerdings stammt nur der Entwurf von Raffel selbst, ausgeführt wurde dieser von seinem Schüler Giulio Romano.
20 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 175) steht „bildende“ statt „bildenke“.
Sinn. Wenn man bedenkt wie Alexander mittelbar durch Verbreitung griechischer Sprache und Bildung auch auf die Ausbreitung des Christenthums gewirkt hat, so ist er auch in dem Sinn eine große Erscheinung. Sie haben es für immer fest gestellt wie er gedacht und dargestellt werden muß, und ich glaube nicht daß nach Ihnen sich noch jemand daran wagen kann.
Die Generalin Lüzow21 hat sich in einem Brief an die Solger22 sehr boshaft über unsern Briefwechsel geäußert, und diese die die Lüzow23 sehr verehrt, hat gleich in demselben Ton gegen unsre Gräfinn wieder davon gesprochen. Meine Eltern sind zum Glück zu vernünftig als daß solche Klatschereien ihnen wichtig seyn könnten; ich habe mich aber doch sehr geärgert, daß man auch das Einfachste und Unschuldigste nicht thun kann ohne daß andre Leute sich darum bekümmern.24
25Leben Sie nun wohl, liebster Freund, tausend Grüße von meinen Eltern und Agnes, wir alle haben keinen größeren Wunsch als Sie bald wieder zu sehen. Ich bin heut so eilig und habe alles durch einander gekritzelt. Ich wollte nur ganz kurz schreiben, an Sie kann ich es aber nicht. Ihre treue Freundinn Dorothea.21 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 175) steht „L.“ statt „Lüzow“.
22 Bei Sybel: Erinnerungen steht „S.“ statt „Solger“.
23 Bei Sybel: Erinnerungen steht „L.“ statt „Lüzow“.
24 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 175) steht „kümmern“ statt „bekümmern“.
25 Bei Sybel: Erinnerungen folgt eine unmarkierte Auslassung bis zum Ende des Briefs.