
Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz
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Dresden den 20 May
1833.
Nehmen Sie meinen Dank, mein theuerster
vortrefflichster Freund, dafür daß Sie mich
diesmal nicht lange auf Ihre Antwort haben
warten lassen: ich sehnte mich danach, mehr
noch als sonst; denn ich hatte meinen letzten
Brief1 kaum abgeschickt, so bereute ich schon
Alles was ich Ihnen geschrieben hatte. Ich
dachte Sie würden mich noch für weit boshafter
und kleinlicher halten als andre Leute, daß
ich Ihnen solche Geschichten2 wieder erzählte,
Sie würden mir am Ende gar nicht mehr
schreiben. Und doch hatte mich eine innere
Stimme angetrieben Ihnen Alles zu sagen
denn man wollte mir durch die Solger3 ein
Mißtrauen gegen Sie beibringen, mich be=
reden Ihnen nicht mehr zu schreiben, kurz,
ich hatte das Gefühl als ob man uns tren=
nen wollte, und ich dachte man würde es dort
bei Ihnen eben so versuchen. Lassen Sie
uns immer ganz wahr und offen gegen
2 Im Brief vom 8. März 1833, S. 8 (Bl. 4 verso) berichtet Dorothea Tieck davon, dass Henriette Solger und Elisa von Lützow ihren Briefverkehr mit Uechtritz kritisiert hatten.
3 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 176) steht „S.“ statt „Solger“.
einander seyn, ich fühle mich oft recht einsam
in der Welt, und immer einsamer nur; je
mehr Menschen ich sehen muß, um so mehr möch=
te ich mich in mein Inneres zurück ziehen;
doch wenn ich Ihnen schreibe geht mir das Herz
auf, und es ist mir als brauchte ich nichts
zu fürchten oder zurück zu halten. Recht
betrübt macht es mich immer daß dies äu=
ßere St Treiben die schöne innere Ein=
samkeit und Sammlung stört, und daß
die Welt doch immer so viel Einfluß auf
uns behält. So lebe ich recht oft im4 Zwiespalt
mit mir selbst, und meine Sehnsucht nach
dem Kloster erwacht dann auf's Neue,
denn seit meiner Kindheit war dies im̄er
das höchste und einzige Glück was ich mir
denken konnte, und hätte mich nicht die
Liebe zu meinen Eltern zurück gehalten
ich wäre schon in meinem funfzehnten
Jahr in's Kloster gegangen, ob ich wohl
gethan hätte ist sehr die Frage; denn ich
dachte mir dies Leben wie es sonst war
wie ich es aus den Geschichten der Heiligen
4 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 176) steht „in“ statt „im“.
kannte, nicht aber wie es jetzt wohl großen=
theils seyn mag. Unsre Zeit scheint dazu
berufen alles Schöne zu zerstören, und
so bleibt einem Gemüth daß5 der Stille be=
darf nichts übrig, als durch tausend Kämpfe
nach dem innern Frieden zu ringen.
/ 6Wir haben viel Trauriges erlebt seit ich
Ihnen zuletzt schrieb: In Lüttichaus Hause,
beim Fürsten Reuß7 brachen die Masern
aus. Sie die Lüttichau zog gleich auf das Land um die
Kinder zu schützen, er mußte wegen der
Vermählungsfeier des Prinzen8 hier blei=
ben. Trotz aller Vorsicht war ihr Sohn aber
schon angesteckt, die Krankheit brach nach
10 Tagen bei ihm aus, und den andern
Tag9 war er todt. So mußte die unglück=
liche Frau nun herein kommen um dem
Mann den Tod seines einzigen Sohnes
anzukündigen, er war schon 14 Jahr alt
ein kluges, gutmüthiges Kind, dabei
lustig und gesund, recht wie für das Leben
geschaffen. Es war ein unaussprechliches
Leiden, erst vor einem Jahr hatten sie
5 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 176) steht „das“ statt „daß“.
6 Bei Sybel: Erinnerungen fehlt der folgende sowie der darauffolgende Absatz bis einschließlich „erbärmlicher Zustand“, S. 6 (Bl. 3 verso).
7 Welcher Fürst Reuß gemeint ist, konnte nicht nachgewiesen werden.
8 Am 24. April 1833 heiratete Prinz Friedrich August von Sachsen Maria Anna von Bayern.
9 Karl von Lüttichau starb am 14. April 1833 im Alter von 13 Jahren.
eine Tochter verloren,10 und haben nun nur
noch ein kleines Mädchen11 von 3 Jahren.
Ich war fast immer bei der Lüttichau den̄
ob sie gleich in der Stadt blieb sah sie doch
fast niemand. Ihre wahrhaft christliche
Ergebung und großartige Fassung, die
so einfach und fern von allem Zwang
war, haben mir einen tiefen Eindruck
gemacht, und die 14 Tage die wir so mit=
einander verlebten, so traurig sie waren
hatten doch etwas beglückendes und
bleiben mir unvergeßlich. Die Lüttichau
wurde nun auch krank, wir dachten nicht daß
eine Ansteckung sich so lange verhalten könne
und ich ging noch immer zu ihr, aber nun
bekam sie doch noch die Masern, und denselben
Tag mußte ich mich mit einem heftigen Fie=
ber zu Bette legen, ich glaubte ich sey
auch schon angesteckt, selbst der Arzt konnte
es in den ersten Tagen noch nicht wissen,
ich war sehr betrübt, denn in meiner Fami=
lie haben alle die Krankheit nicht gehabt,
und wollten sich doch nicht von mir trennen
10 Ida Amalia war 1832 mit 6 Jahren gestorben.
11 Henriette Rosalie von Lüttichau wurde 69 Jahre alt.
2
Ich hatte endlich nur die Gripe, die hier sehr
allgemein ist, die Lüttichau wurde aber so
krank daß sie mehrere Tage jeden Augen=
blick ihr Ende erwarteten. Sie können den=
ken wie wir uns ängstigten. Jetzt erholt
sie sich nun schneller als man es erwartete
wir sind aber noch getrennt; Therese Nostitz
war ganz bei ihr und hat sie mit großer
Treue und Sorgfalt gepflegt. Ich hatte nur
einige Tage Fieber und Brustschmerzen, war
aber hernach so angegriffen und hatte so
viel Kopfweh daß ich fast 3 Wochen zugebracht
habe, ohne etwas zu thun, es machte mich
sehr muthlos. Erst seit einigen Tagen kan̄
ich mich anhaltend beschäftigen, nur im Gehen
fühle ich noch eine große Mattigkeit, wir ha=
ben aber auch den ganzen May eine beispiel=
lose Hitze. Wäre diese Krankheit nicht ge=
wesen, so hätte ich Ihnen schon eher geschrieben,
mein liebster Freund, lassen Sie es mich
also nicht entgelten und antworten Sie mir
bald, ich kann es Ihnen nicht sagen welche gro=
ße Freude mir jeder Ihrer Briefe macht.
Eine Frage in Ihrem Brief zu beantworten
wird mir recht schwer, nämlich wegen der
Rosamunde. Brockhaus war vor kurzem
hier, und Vater sprach wieder mit ihm, er
will sie aber nun gar nicht drucken, auch
wenn Vater ihm eine Vorrede giebt will er
es nicht. Reimer läßt sich auf gar nichts ein,
das weiß man schon ehe man ihn frägt. Va=
ter sagt nun er will noch an andre Buch=
händler schreiben, wie es aber mit Sseinen
Schreiben ist, das wissen Sie wohl, und ich
rathe Ihnen nicht darauf zu rechnen.12 Es
ist mir recht schmerzlich daß ich Ihnen in Ihren
Angelegenheiten immer nur Unangenehmes
zu melden habe, ich komme Ihnen gewiß
schon wie ein krächzender Unglücksrabe
vor. Jede Uebersetzung nach Victor Hugo
wird gleich bei vier Verlegern gedruckt
das ist doch wahrlich ein erbärmlicher Zu=
stand! / Daß Löbell im Merz bei uns war
wissen Sie wohl schon,13 ich habe mich recht ge=
freut ihn nach so langer Zeit wieder zu
sehen, und ich finde ihn heitrer und liebens=
12 Die Rosamunde erschien 1834 bei Schreiner in Düsseldorf, ohne ein Vorwort von Ludwig Tieck.
13 Loebell war seit 1829 Professor für Geschichte in Bonn, wodurch Uechtritz möglicherweise über dessen Besuch in Dresden informiert war.
würdiger als sonst. Er hat gewiß ein treues
redliches Gemüth, selbst seine Hülflosigkeit u.
Ungeschicklichkeit in manchen Dingen ist mir
nicht störend, man freut sich daß man ihm
helfen, etwas für ihn thun kann. Die bekan̄=
ten Verse aus dem Tasso von den aus ge=
bliebenen Gracien14 wierden oft auf Löbell
angewendet, ich finde aber dies sehr un=
passend, denn dort kann doch weder von
Schönheit noch einer gewissen Leichtigkeit
im Umgang die Rede seyn, sonder15 von ei=
nem zarten Sinn, der die Empfindung des
andern zu verstehn und zu würdigen
weiß, und diesen kann man Löbell ge=
wiß nicht absprechen. Jetzt ist die berühm=
te Schechner hier, Sie wissen wohl daß sie
mit einem Bruder des Berliner Wagen
verheirathet, und also unsre Cousine ist,16
wir sehen sie und ihren Mann täglich, sie
gefällt mir gut, denn sie hat ein ganz
einfaches, natürliches Wesen. Zum Singen
ist sie noch nicht gekommen, sie wird ver=
muthlich hier nur im Freischütz auftreten.
14 Die Stelle in Goethes 1790 erschienenem Schauspiel Torquato Tasso lautet: „Doch – haben alle Götter sich versammelt / Geschenke seiner Wiege darzubringen? / Die Grazien sind leider ausgeblieben, / Und wem die Gaben dieser Holden fehlen, / Der kann zwar viel besitzen, vieles geben / Doch läßt sich nie an seinem Busen ruhn.“ (Ebd., S. 62).
15 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 177) steht „sondern“ statt „sonder“.
16 Carl Waagen, der Mann von Anna Waagen (geb. Schechner), und Gustav Friedrich Waagen waren Söhne von Amalia Tiecks Schwester Louise Alberti.
Sie thun sehr wohl wenn Sie den Shakspear
nur im Original lesen, da Sie es wollen nen̄e
ich Ihnen aber die Stücke17 welche von mir über=
setzt sind, wir haben öfter die älteren und
besseren Lesarten des Folio18 angenom̄en,
und dadurch wird manches anders erklärt,
nur in sofern kann unsre Arbeit Ihnen
vielleicht von einigem Nutzen seyn. Im An=
fang arbeitete ich mit Baudissin zusam=
men, in Viel Lärmen um nichts sind die Ver=
se von mir und die prosaischen Scenen von
ihm. Die Widerspenstige haben wir beide
ganz übersetzt, hernach ist von jedem das
Beste behalten. Auf diese Art ging es
aber zu langsam und machte sich auch nicht
recht, weil wir eigentlich verschiedenen Grund=
sätzen folgten, und wir theilten uns
nun die Stücke. Ich bekam die Veroneser,
Timon von Athen, Coriolan, Macbeth,
Wintermährchen und Cymbeline. Coriolan
und Macbeth haben mir die größte Freu=
de gemacht. Baudissin hat viel Talent
für das Leichte, Komische und die Wort=
17 Zu Dorotheas Shakespeare-Übersetzung vgl. den Brief vom 8. März 1833, S. 1–4 (Bl. 1 und 2).
18 Die im Folio-Format 1623 erschienene erste Gesamtausgabe der Werke William Shakespeares wird als erste Folio-Ausgabe bezeichnet.
3
spiele, darum sind ihm auch die Irrungen und
Love's labour's lost, was wir Liebes Lust und
Leid19 genannt haben, vorzüglich gelungen, im
letzteren sind einige Sonette von mir.
Was Sie über Immermann schreiben finde
ich sehr schön, und es erklärt mir nur
mein eignes Gefühl. Ich halte ihn für edel
und verehre sein Talent, aber ich könnte
nie vertrauen zu ihm fassen, das kom̄t
wohl von dem Zwiespalt in seinem Innern
der wohl in uns allen ist, in ihm aber auf=
fallender und schneidender als ich es noch
bemerkt habe. Wohl bestehen wir alle aus
Widersprüchen und sie sind ein Bedingniß
unsres Daseyns so lange wir auf dieser
Welt leben, doch diese Widersprüche müssen
sich wie die Dissonanzen und Assonanzen
lösen und wieder verschlingen, daraus
entsteht die Musik des Lebens; bei ihm
ist es aber als ständen sie in Fels gehauen
da, darum ist er gewiß sehr unglücklich und
macht auch unglücklich. Ich habe im̄er die
Ueberzeugung gehabt daß er in dem Glebo
19 Der originale Titel lautet Liebes Leid und Lust.
Glebow20 sich und sein Verhältniß geschildert
hat, denn dieser Charakter scheint mir mit
mehr Schärfe und Bitterkeit gezeichnet als
alle die andern. Wir haben kürzlich sein
Tulifäntchen geslesen und es hat uns
viel Vergnügen gemacht. Daß Sie nichts
arbeiten ist sehr betrübt, und ich wollte ich
wüßte Ihnen etwas zu sagen was Sie
antreiben könnte; denken Sie aber nur
welche Freude es Ihnen seyn wird wenn
Sie die Chaldäer21 beendigt haben. Ich las
jetzt die ersten Bücher der Könige, und
dachte recht viel an das was Sie mir von
ihrem Plan zu dem David22 erzählt haben,
das kann auch ein schönes Gedicht werden
denken Sie nur wie viel noch vor Ihnen
liegt, und wie die Nachwelt Ihren Namen
nennen wird, wenn auch die jetzige, arm=
seelige Zeit sSie nicht erkennt so wie Sie
es verdienen, auch muß der Dichter seine
Mitwelt vergessen können, da er nicht
nur für sie lebt und arbeitet.
Was diesen Sommer23 aus uns wird weiß
20 Glebof ist eine der Hauptfiguren in Immermanns Trilogie Alexis.
21 Uechtritz begann die Babylonier in Jerusalem unter dem Titel „Die Chaldäer in Jerusalem“; vgl. Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 90.
22 Vermutlich ist König David gemeint; ein Werk Uechtritz' über den Propheten ist nicht bekannt.
23 Im Juli/August 1833 unternahmen Amalia, Agnes und Dorothea Tieck eine Reise nach Schlesien zu den Verwandten Amalia Tiecks. Ludwig Tieck blieb in Dresden, um zu arbeiten. Vgl. Brief vom 22. Juli 1833, S. 1 (Bl. 1 recto).
ich noch nicht. Vater ist mit seinen Arbeiten
noch sehr zurück, er schreibt jetzt eine No=
velle24 für Brockhaus, dann soll der Novel=
lenkranzt25 noch eheraus kommen. So wird
wohl nichts aus einer Reise werden, und
das wäre mir recht lieb denn ich müßte
mit reisen, und Agnes bliebe mit der
Mutter hier, eine solche Trennung ist mir
aber immer sehr schmerzlich. Sollten wir
noch reisen hoffe ich aber gewiß Sie, lieb=
ster Freund, zu sehen, das wäre das Ein=
zige was mich wahrhaft erfreuen, und
über die Trennung von der Mutter trö=
sten könnte. Was ist es auch vieler Men=
schen Städte zu sehen, gegen die Freude
über ein einziges theures Menschen=
angesicht? Sollten wir nicht bis Düssel=
dorf kommen so müßten wir uns irgend
wo am Rhein treffen, Sie machen doch
wohl jeden Sommer eine kleine Reise.
Ueber das alles schreibe ich Ihnen noch
Dazu daß Sie im Herbst wieder her kommen26
ist wohl keine Aussicht? Löbell schrieb von
24 Die Novelle Eine Sommerreise erschien 1833 in der Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1834.
25 Der Novellenkranz. Ein Almanach auf das Jahr 1834 erschien 1833.
26 Uechtritz hatte die Familie Tieck im September 1832 in Dresden besucht und wurde erstmals in deren Haus untergebracht.
Berlin aus sSie hätten eine andre Stelle be=
kommen,. Schreiben sSie mir doch ob das wahr
ist, ob Sie einigen Vortheil davon haben,
und welchen Titel man Ihnen nun geben
muß.27 Ihr Vetter, der kleine blasse
Wagner war einmal bei uns. Er erzählt
unglaubliche Begebenheiten von seinen
Reisen in denen sein Heldenmuth im̄er
die größte Rolle spielt, man will ihm
nicht alles glauben; einige sind sogar
so boshaft zu behaupten er habe bloß hier
in der Nähe in der Verborgenheit gelebt
und Reisebeschreibungen geslesen. Ihr
Freund Robert ist nun auch verheirathet,
denn wir haben ihn in der Kirche aufbie=
ten hören. Agnes ist aber nicht zur Hoch=
zeit eingeladen worden.
Leben Sie nun wohl, mein theuerster
Freund. Alle grüßen Sie herzlich. Ver=
zeihen Sie mein langes Geschwatze.
Ihnen zu schreiben, und noch mehr einen
Brief von Ihnen zu bekommen ist eine
von den wahren und ächten Freuden
meines Lebens.28 Möchten Sie immer so
glücklich seyn wie ich es wünsche und
dabei nicht ganz vergessen
Ihre Dorothea
27 Uechtritz wurde am 6. April 1833 vom Landgerichtsassessor zum Landgerichtsrat befördert. Ein finanzieller Vorteil ging mit der Beförderung nicht einher, wie er im Brief an seine Eltern vom 14. April 1833 beklagt; vgl. Sybel: Erinnerungen, S. 135.
28 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 179) folgt eine unmarkierte Auslassung bis zum Ende des Briefs.
Dresden den 20 May 1833. Nehmen Sie meinen Dank, mein theuerster vortrefflichster Freund, dafür daß Sie mich diesmal nicht lange auf Ihre Antwort haben warten lassen: ich sehnte mich danach, mehr noch als sonst; denn ich hatte meinen letzten Brief1 kaum abgeschickt, so bereute ich schon Alles was ich Ihnen geschrieben hatte. Ich dachte Sie würden mich noch für weit boshafter und kleinlicher halten als andre Leute, daß ich Ihnen solche Geschichten2 wieder erzählte, Sie würden mir am Ende gar nicht mehr schreiben. Und doch hatte mich eine innere Stimme angetrieben Ihnen Alles zu sagen denn man wollte mir durch die Solger3 ein Mißtrauen gegen Sie beibringen, mich bereden Ihnen nicht mehr zu schreiben, kurz, ich hatte das Gefühl als ob man uns trennen wollte, und ich dachte man würde es dort bei Ihnen eben so versuchen. Lassen Sie uns immer ganz wahr und offen gegen
2 Im Brief vom 8. März 1833, S. 8 (Bl. 4 verso) berichtet Dorothea Tieck davon, dass Henriette Solger und Elisa von Lützow ihren Briefverkehr mit Uechtritz kritisiert hatten.
3 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 176) steht „S.“ statt „Solger“.
einander seyn, ich fühle mich oft recht einsam in der Welt, und immer einsamer nur; je mehr Menschen ich sehen muß, um so mehr möchte ich mich in mein Inneres zurück ziehen; doch wenn ich Ihnen schreibe geht mir das Herz auf, und es ist mir als brauchte ich nichts zu fürchten oder zurück zu halten. Recht betrübt macht es mich immer daß dies äußere Treiben die schöne innere Einsamkeit und Sammlung stört, und daß die Welt doch immer so viel Einfluß auf uns behält. So lebe ich recht oft im4 Zwiespalt mit mir selbst, und meine Sehnsucht nach dem Kloster erwacht dann auf's Neue, denn seit meiner Kindheit war dies immer das höchste und einzige Glück was ich mir denken konnte, und hätte mich nicht die Liebe zu meinen Eltern zurück gehalten ich wäre schon in meinem funfzehnten Jahr in's Kloster gegangen, ob ich wohl gethan hätte ist sehr die Frage; denn ich dachte mir dies Leben wie es sonst war wie ich es aus den Geschichten der Heiligen
4 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 176) steht „in“ statt „im“.
kannte, nicht aber wie es jetzt wohl großentheils seyn mag. Unsre Zeit scheint dazu berufen alles Schöne zu zerstören, und so bleibt einem Gemüth daß5 der Stille bedarf nichts übrig, als durch tausend Kämpfe nach dem innern Frieden zu ringen.
6Wir haben viel Trauriges erlebt seit ich Ihnen zuletzt schrieb: In Lüttichaus Hause, beim Fürsten Reuß7 brachen die Masern aus. Sie die Lüttichau zog gleich auf das Land um die Kinder zu schützen, er mußte wegen der Vermählungsfeier des Prinzen8 hier bleiben. Trotz aller Vorsicht war ihr Sohn aber schon angesteckt, die Krankheit brach nach 10 Tagen bei ihm aus, und den andern Tag9 war er todt. So mußte die unglückliche Frau nun herein kommen um dem Mann den Tod seines einzigen Sohnes anzukündigen, er war schon 14 Jahr alt ein kluges, gutmüthiges Kind, dabei lustig und gesund, recht wie für das Leben geschaffen. Es war ein unaussprechliches Leiden, erst vor einem Jahr hatten sie
5 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 176) steht „das“ statt „daß“.
6 Bei Sybel: Erinnerungen fehlt der folgende sowie der darauffolgende Absatz bis einschließlich „erbärmlicher Zustand“, S. 6 (Bl. 3 verso).
7 Welcher Fürst Reuß gemeint ist, konnte nicht nachgewiesen werden.
8 Am 24. April 1833 heiratete Prinz Friedrich August von Sachsen Maria Anna von Bayern.
9 Karl von Lüttichau starb am 14. April 1833 im Alter von 13 Jahren.
eine Tochter verloren,10 und haben nun nur noch ein kleines Mädchen11 von 3 Jahren. Ich war fast immer bei der Lüttichau denn ob sie gleich in der Stadt blieb sah sie doch fast niemand. Ihre wahrhaft christliche Ergebung und großartige Fassung, die so einfach und fern von allem Zwang war, haben mir einen tiefen Eindruck gemacht, und die 14 Tage die wir so miteinander verlebten, so traurig sie waren hatten doch etwas beglückendes und bleiben mir unvergeßlich. Die Lüttichau wurde nun auch krank, wir dachten nicht daß eine Ansteckung sich so lange verhalten könne und ich ging noch immer zu ihr, aber nun bekam sie doch noch die Masern, und denselben Tag mußte ich mich mit einem heftigen Fieber zu Bette legen, ich glaubte ich sey auch schon angesteckt, selbst der Arzt konnte es in den ersten Tagen noch nicht wissen, ich war sehr betrübt, denn in meiner Familie haben alle die Krankheit nicht gehabt, und wollten sich doch nicht von mir trennen
10 Ida Amalia war 1832 mit 6 Jahren gestorben.
11 Henriette Rosalie von Lüttichau wurde 69 Jahre alt.
Ich hatte endlich nur die Gripe, die hier sehr allgemein ist, die Lüttichau wurde aber so krank daß sie mehrere Tage jeden Augenblick ihr Ende erwarteten. Sie können denken wie wir uns ängstigten. Jetzt erholt sie sich nun schneller als man es erwartete wir sind aber noch getrennt; Therese Nostitz war ganz bei ihr und hat sie mit großer Treue und Sorgfalt gepflegt. Ich hatte nur einige Tage Fieber und Brustschmerzen, war aber hernach so angegriffen und hatte so viel Kopfweh daß ich fast 3 Wochen zugebracht habe, ohne etwas zu thun, es machte mich sehr muthlos. Erst seit einigen Tagen kann ich mich anhaltend beschäftigen, nur im Gehen fühle ich noch eine große Mattigkeit, wir haben aber auch den ganzen May eine beispiellose Hitze. Wäre diese Krankheit nicht gewesen, so hätte ich Ihnen schon eher geschrieben, mein liebster Freund, lassen Sie es mich also nicht entgelten und antworten Sie mir bald, ich kann es Ihnen nicht sagen welche große Freude mir jeder Ihrer Briefe macht.
Eine Frage in Ihrem Brief zu beantworten wird mir recht schwer, nämlich wegen der Rosamunde. Brockhaus war vor kurzem hier, und Vater sprach wieder mit ihm, er will sie aber nun gar nicht drucken, auch wenn Vater ihm eine Vorrede giebt will er es nicht. Reimer läßt sich auf gar nichts ein, das weiß man schon ehe man ihn frägt. Vater sagt nun er will noch an andre Buchhändler schreiben, wie es aber mit seinen Schreiben ist, das wissen Sie wohl, und ich rathe Ihnen nicht darauf zu rechnen.12 Es ist mir recht schmerzlich daß ich Ihnen in Ihren Angelegenheiten immer nur Unangenehmes zu melden habe, ich komme Ihnen gewiß schon wie ein krächzender Unglücksrabe vor. Jede Uebersetzung nach Victor Hugo wird gleich bei vier Verlegern gedruckt das ist doch wahrlich ein erbärmlicher Zustand! Daß Löbell im Merz bei uns war wissen Sie wohl schon,13 ich habe mich recht gefreut ihn nach so langer Zeit wieder zu sehen, und ich finde ihn heitrer und liebens=
12 Die Rosamunde erschien 1834 bei Schreiner in Düsseldorf, ohne ein Vorwort von Ludwig Tieck.
13 Loebell war seit 1829 Professor für Geschichte in Bonn, wodurch Uechtritz möglicherweise über dessen Besuch in Dresden informiert war.
würdiger als sonst. Er hat gewiß ein treues redliches Gemüth, selbst seine Hülflosigkeit und Ungeschicklichkeit in manchen Dingen ist mir nicht störend, man freut sich daß man ihm helfen, etwas für ihn thun kann. Die bekannten Verse aus dem Tasso von den aus gebliebenen Gracien14 werden oft auf Löbell angewendet, ich finde aber dies sehr unpassend, denn dort kann doch weder von Schönheit noch einer gewissen Leichtigkeit im Umgang die Rede seyn, sonder15 von einem zarten Sinn, der die Empfindung des andern zu verstehn und zu würdigen weiß, und diesen kann man Löbell gewiß nicht absprechen. Jetzt ist die berühmte Schechner hier, Sie wissen wohl daß sie mit einem Bruder des Berliner Wagen verheirathet, und also unsre Cousine ist,16 wir sehen sie und ihren Mann täglich, sie gefällt mir gut, denn sie hat ein ganz einfaches, natürliches Wesen. Zum Singen ist sie noch nicht gekommen, sie wird vermuthlich hier nur im Freischütz auftreten.
14 Die Stelle in Goethes 1790 erschienenem Schauspiel Torquato Tasso lautet: „Doch – haben alle Götter sich versammelt / Geschenke seiner Wiege darzubringen? / Die Grazien sind leider ausgeblieben, / Und wem die Gaben dieser Holden fehlen, / Der kann zwar viel besitzen, vieles geben / Doch läßt sich nie an seinem Busen ruhn.“ (Ebd., S. 62).
15 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 177) steht „sondern“ statt „sonder“.
16 Carl Waagen, der Mann von Anna Waagen (geb. Schechner), und Gustav Friedrich Waagen waren Söhne von Amalia Tiecks Schwester Louise Alberti.
Sie thun sehr wohl wenn Sie den Shakspear nur im Original lesen, da Sie es wollen nenne ich Ihnen aber die Stücke17 welche von mir übersetzt sind, wir haben öfter die älteren und besseren Lesarten des Folio18 angenommen, und dadurch wird manches anders erklärt, nur in sofern kann unsre Arbeit Ihnen vielleicht von einigem Nutzen seyn. Im Anfang arbeitete ich mit Baudissin zusammen, in Viel Lärmen um nichts sind die Verse von mir und die prosaischen Scenen von ihm. Die Widerspenstige haben wir beide ganz übersetzt, hernach ist von jedem das Beste behalten. Auf diese Art ging es aber zu langsam und machte sich auch nicht recht, weil wir eigentlich verschiedenen Grundsätzen folgten, und wir theilten uns nun die Stücke. Ich bekam die Veroneser, Timon von Athen, Coriolan, Macbeth, Wintermährchen und Cymbeline. Coriolan und Macbeth haben mir die größte Freude gemacht. Baudissin hat viel Talent für das Leichte, Komische und die Wort=
17 Zu Dorotheas Shakespeare-Übersetzung vgl. den Brief vom 8. März 1833, S. 1–4 (Bl. 1 und 2).
18 Die im Folio-Format 1623 erschienene erste Gesamtausgabe der Werke William Shakespeares wird als erste Folio-Ausgabe bezeichnet.
spiele, darum sind ihm auch die Irrungen und Love's labour's lost, was wir Liebes Lust und Leid19 genannt haben, vorzüglich gelungen, im letzteren sind einige Sonette von mir.
Was Sie über Immermann schreiben finde ich sehr schön, und es erklärt mir nur mein eignes Gefühl. Ich halte ihn für edel und verehre sein Talent, aber ich könnte nie vertrauen zu ihm fassen, das kommt wohl von dem Zwiespalt in seinem Innern der wohl in uns allen ist, in ihm aber auffallender und schneidender als ich es noch bemerkt habe. Wohl bestehen wir alle aus Widersprüchen und sie sind ein Bedingniß unsres Daseyns so lange wir auf dieser Welt leben, doch diese Widersprüche müssen sich wie die Dissonanzen und Assonanzen lösen und wieder verschlingen, daraus entsteht die Musik des Lebens; bei ihm ist es aber als ständen sie in Fels gehauen da, darum ist er gewiß sehr unglücklich und macht auch unglücklich. Ich habe immer die Ueberzeugung gehabt daß er in dem
19 Der originale Titel lautet Liebes Leid und Lust.
Glebow20 sich und sein Verhältniß geschildert hat, denn dieser Charakter scheint mir mit mehr Schärfe und Bitterkeit gezeichnet als alle die andern. Wir haben kürzlich sein Tulifäntchen gelesen und es hat uns viel Vergnügen gemacht. Daß Sie nichts arbeiten ist sehr betrübt, und ich wollte ich wüßte Ihnen etwas zu sagen was Sie antreiben könnte; denken Sie aber nur welche Freude es Ihnen seyn wird wenn Sie die Chaldäer21 beendigt haben. Ich las jetzt die ersten Bücher der Könige, und dachte recht viel an das was Sie mir von ihrem Plan zu dem David22 erzählt haben, das kann auch ein schönes Gedicht werden denken Sie nur wie viel noch vor Ihnen liegt, und wie die Nachwelt Ihren Namen nennen wird, wenn auch die jetzige, armseelige Zeit Sie nicht erkennt so wie Sie es verdienen, auch muß der Dichter seine Mitwelt vergessen können, da er nicht nur für sie lebt und arbeitet.
Was diesen Sommer23 aus uns wird weiß
20 Glebof ist eine der Hauptfiguren in Immermanns Trilogie Alexis.
21 Uechtritz begann die Babylonier in Jerusalem unter dem Titel „Die Chaldäer in Jerusalem“; vgl. Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 90.
22 Vermutlich ist König David gemeint; ein Werk Uechtritz' über den Propheten ist nicht bekannt.
23 Im Juli/August 1833 unternahmen Amalia, Agnes und Dorothea Tieck eine Reise nach Schlesien zu den Verwandten Amalia Tiecks. Ludwig Tieck blieb in Dresden, um zu arbeiten. Vgl. Brief vom 22. Juli 1833, S. 1 (Bl. 1 recto).
ich noch nicht. Vater ist mit seinen Arbeiten noch sehr zurück, er schreibt jetzt eine Novelle24 für Brockhaus, dann soll der Novellenkranzt25 noch heraus kommen. So wird wohl nichts aus einer Reise werden, und das wäre mir recht lieb denn ich müßte mit reisen, und Agnes bliebe mit der Mutter hier, eine solche Trennung ist mir aber immer sehr schmerzlich. Sollten wir noch reisen hoffe ich aber gewiß Sie, liebster Freund, zu sehen, das wäre das Einzige was mich wahrhaft erfreuen, und über die Trennung von der Mutter trösten könnte. Was ist es auch vieler Menschen Städte zu sehen, gegen die Freude über ein einziges theures Menschenangesicht? Sollten wir nicht bis Düsseldorf kommen so müßten wir uns irgend wo am Rhein treffen, Sie machen doch wohl jeden Sommer eine kleine Reise. Ueber das alles schreibe ich Ihnen noch
Dazu daß Sie im Herbst wieder her kommen26 ist wohl keine Aussicht? Löbell schrieb von
24 Die Novelle Eine Sommerreise erschien 1833 in der Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1834.
25 Der Novellenkranz. Ein Almanach auf das Jahr 1834 erschien 1833.
26 Uechtritz hatte die Familie Tieck im September 1832 in Dresden besucht und wurde erstmals in deren Haus untergebracht.
Berlin aus Sie hätten eine andre Stelle bekommen. Schreiben Sie mir doch ob das wahr ist, ob Sie einigen Vortheil davon haben, und welchen Titel man Ihnen nun geben muß.27 Ihr Vetter, der kleine blasse Wagner war einmal bei uns. Er erzählt unglaubliche Begebenheiten von seinen Reisen in denen sein Heldenmuth immer die größte Rolle spielt, man will ihm nicht alles glauben; einige sind sogar so boshaft zu behaupten er habe bloß hier in der Nähe in der Verborgenheit gelebt und Reisebeschreibungen gelesen. Ihr Freund Robert ist nun auch verheirathet, denn wir haben ihn in der Kirche aufbieten hören. Agnes ist aber nicht zur Hochzeit eingeladen worden.
Leben Sie nun wohl, mein theuerster Freund. Alle grüßen Sie herzlich. Verzeihen Sie mein langes Geschwatze. Ihnen zu schreiben, und noch mehr einen Brief von Ihnen zu bekommen ist eine von den wahren und ächten Freuden meines Lebens.28 Möchten Sie immer so glücklich seyn wie ich es wünsche und dabei nicht ganz vergessen Ihre Dorothea
27 Uechtritz wurde am 6. April 1833 vom Landgerichtsassessor zum Landgerichtsrat befördert. Ein finanzieller Vorteil ging mit der Beförderung nicht einher, wie er im Brief an seine Eltern vom 14. April 1833 beklagt; vgl. Sybel: Erinnerungen, S. 135.
28 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 179) folgt eine unmarkierte Auslassung bis zum Ende des Briefs.