
Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz
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Ich habe es diesmal recht lange versäumt
Ihren schönen Brief zu beantworten, mein1
theuerster Freund; doch ist es2 für mich selbst
am schlimmsten, da ich nun auch um so
später wieder3 Nachricht von Ihnen bekom=
me. Seit wir wieder allein sind hatte ich
viel zu thun, denn ich mußte meine gan=
ze Windtergarderobe in Ordnung bringen
und so habe ich immerfort genäht: ich
bin aber sehr vergnügt dabei gewesen;
denn ich mache alle diese Handarbeiten
sehr gern.
Wir freuen uns Alle darüber daß
Sie wieder an den Chaldäern4 arbei=
ten, möchte Ihnen doch die Stimmung und
Lust daran bleiben, und Sie es bald
beendigen. Der Tod des Dichters ist
nun ganz gedruckt und ich habe es
schon öfter gelesen. Es gehört zu den
größten Dichtungen meines Vaters;
1 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 182) fehlt „mein“.
2 Bei Sybel: Erinnerungen steht „es ist“.
3 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 182) fehlt „wieder“.
4 Uechtritz begann die Babylonier in Jerusalem unter dem Titel „Die Chaldäer in Jerusalem“. Vgl. Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 90.
denn es ist aus einer reinen Begeiste=
rung hervor gegangen. Dadurch daß
es so frei von aller Bitterkeit und
Uebertreibung ist wird es so unbeschreib=
lich rührend: Wir blicken in die Tiefe
des Lebens wie es wirklich ist. Nur die
Zerstreuungen der Welt und unser eit=
ler Sinn macht es uns immer wieder
vergessen, daß eine so edle Resigna=
tion, und ein gänzliches Aufgehen unsrer
Seele in Religion, Poesie und Kunst das
einzige ist was uns beglücken kann.
Dabei ist die ganze Zeit, die Landes=
art, der Kriegszug, der Ruhm und
Fall von Portugall vortrefflich ge=
schildert. Wenn mich etwas stört so
ist es der lutherische Cathechismus;
denn ein so kleiner Kindercathe=
chismus mit Fragen und Antworten
kann wohl keinen Menschen trösten
und erbauen; dann glaube ich auch
nicht daß die Jesuiten richtig auf=
gefaßt sind, in jener, ihrer schönsten
Zeit, haben sie viel für Poesie und
Wissenschaft gethan, und waren nichts
weniger als beschränkt und bigott.
Ich kann die Novelle nicht oft lesen
so wehmüthig stimmt sie mich, ich kom̄e
mehrere Tage nicht aus den Thränen
und obgleich diese Wehmuth höchst lieblich
ist, so bin ich doch dann unfähig etwas
anderes zu thun, und mit den Men=
schen fortzuleben auf die gewöhnliche
Weise.
5Ich habe Ihren Geheimerath nun auch gele=
sen und es thut mir leid daß ich mich so
hart darüber ausgedrückt habe, doch
es geschah in Auftrag meines Vaters.6
Der Charakter des Geheimeraths ist
gefällt mir eigentlich sehr, nur scheint
mir sein seltsamer Wahnsinn nicht ge=
nug motivirt, auch glaube ich das Ganze
passte mehr zu einer Novelle. So wie
es hier ist verletzt der tragische Schluß
5 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 183) folgt eine unmarkierte Auslassung der nächsten zwei Absätze bis einschließlich „immer etwas Dunkles“.
6 Im Brief vom 12. September 1833 übermittelte Dorothea Tieck Uechtritz die Kritik ihres Vaters am Geheimerath.
7[am Rande: Frau von Schl Scholz und ihre Tochter blei=
ben diesen Winter hier, und wir sehen sie oft]
und erscheint wie eine Art Grausam=
keit, da man ihn wirklich nicht erwartet
und alles sich zu einem glücklichen Aus=
gang hinneigt.
Daß Raumers Wilhelmine, bei allem
Schönen, etwas Unzusammenhängendes
hat finde ich auch. Ich kenne die seltsame
Art wie sie entstanden ist, und die Form
in der er sie erst geben wollte. Davon
erzähle ich Ihnen einmal wenn wir
uns sehen, ich mag es dem Papier nicht
anvertrauen. Ohne diesen Schlüssel be=
hält die Geschichte immer etwas Dunkles
Wenn Ihnen mein Wohl nur8 irgend am
Herzen liegt, liebster Freund, so wün=
schen Sie es nicht daß wir für im̄er nach Berlin
kommen, mich macht der Gedanke an die
Möglichkeit schon unglücklich. Ich habe mich
hier in ein so stilles, klösterliches Leben
hinein gelebt, und mich so viel es sich nur
irgend thun läßt von allem Umgang
zurück gezogen, nur darin kann ich Frieden
7 Der folgende Zusatz „Frau von … oft“ steht kopfüber am oberen Rand der Seiten 1 (Bl. 1 recto) und 4 (Bl. 2 verso).
8 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 183) fehlt „nur“.
und Heiterkeit finden, außer dem Hause
ist die Kirche und die herrliche Gegend mir
ein unbeschreiblicher Genuß; denke ich
mich nun in jene G Mauern eingeschlossen
ohne alle Natur, in tausend gesellige Ver=
hältnisse verwickelt, die wir dort nicht
vermeiden könnten, es ist mir als wäre
es mein Tod. Könnte ich mich überzeugen
daß mein Vater dort glücklicher leben
würde, so müßte ich mich selbst darüber
vergessen; aber ich glaube gerade das
Gegentheil. Wir könnten es nicht vermei=
den die stolzen Verwandten9 unsrer Grä=
finn zu sehen, und wir selbst haben
dort zu viel und verschieden artige
Verwandte;10 in allen diesen Verhältnissen
würde er sich nicht wohl fühlen, überhaupt
ist Berlin gewiß kein Ort für ihn.
Sie tadeln mich vielleicht hart wegen
meiner Aeußerungen; ich kann es
aber nicht ändern daß ich so bin, obgleich
ich es gewiß nicht loben werde. Kan̄
9 Gemeint sind vermutlich die Geschwister Henriette von Finckensteins: Alexander Heinrich Ludwig, Heinrich Friedrich Leopold, Karoline Albertine Juliane, Wilhelm Maximilian Emil und Albertine Ulrike Luise von Finckenstein.
10 Ludwig Tiecks Bruder Friedrich Tieck war 1819 nach Berlin zurückgekehrt.
doch auch11 kein Mensch seiner Länge etwas
zusetzen, und so hat jeder sein eignes
Element in dem er nur leben und
athmen kann: Einsamkeit und stille
Thätigkeit ist das einzige worin mein
schwacher Geist sich zurechte findet.
12Immermann war einige Zeit hier und
wir sahen ihn täglich. Es ist doch schade
daß Sie ganz mit ihm zerfallen sind,13[...]
denn er hat doch viel Verstand und alle
seine Aeußerungen sind nichts nachge=
formtes, sondern ganz eigenthümlich. Hier
war er liebenswürdig weil er sich mei=
nem Vater unbedingt unter ordnet
doch kann ich mir denken wie er seyn
muß wenn er sich für den Ersten hält,
und wie es dann nicht mit ihm auszu=
halten ist. Obgleich er mir gewisserma=
ßen gefällt könnte ich doch nie Ver=
trauen zu ihm fassen. Sein Verstand
ist zu überwiegend über sein Gemüth,
das fühlt man im Leben, wie in allen
11 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 184) fehlt „auch“.
12 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 184) folgt eine unmarkierte Auslassung des folgenden Absatzes bis einschließlich „miteinander stehen“.
13 Über die Ursache des Zerwürnisses ist nichts bekannt. Steitz vermutet, dass „Immermanns Schroffheit und überaus große Reizbarkeit“ zum Bruch geführt haben mögen; vgl. Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 21. 1836 kam es allerdings wieder zu einer Annäherung zwischen Uechtritz und Immermann.
seinen Dichtungen. Sein Tyroler Trau=
erspiel, das ganz verändert ist,14 las
er uns vor, Vieles darin finde ich sehr
schön, wie viel schöner würde aber
das Ganze seyn wenn, statt der Nichts=
würdigkeit der Diplomatik, das tra=
gische Schicksal Deut des Kaisers und
der Sturz Deutschlands15 den Hinter=
grund bildete. Die Begeistrung reicht
bei ihm nicht aus, und der kalte Ver=
stand thut zu viel in seinen Dichtun=
gen. Schon dieser Gegensatz, den
man immer durchfühlt, und der bei
dem wahren Dichter gar nicht existirt,
wird ihn nie das Höchste erreichen
lassen. Nichts gefällt mir so ganz
wie sein Tulifäntchen, es scheint mirs in dieser Art etwas Vollendetes.
Von Ihnen habe ich gar nicht mit ihm
gesprochen, weil ich zu wenig davon
weiß, wie Sie miteinander stehen.
Vater hat einige Zeit sehr an Zahn=
14 Immermann überarbeitete 1833, 5 Jahre nach Erscheinen, sein Trauerspiel in Tyrol, angeregt durch die wiederholte Kritik, es sei zu lang. Unter dem Titel Andreas Hofer nahm er die veränderte Fassung 1835 in seine gesammelten Schriften auf.
15 Am 6. August 1806 legte Kaiser Franz II. die Krone des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nationen nieder.
schmerzen gelitten, jetzt geht es ihm
wieder besser und er schreibt die letz=
ten Noten zum Shakspear.16 Raumer
war auf seiner Rückreise von Wien
einige Tage bei uns; er ist sehr mun=
ter und freut sich seines neu gekauf=
ten und eingerichteten Hause. Ich habe
angefangen den ersten Theil seiner
neuern Geschichte zu lesen. Mit gro=
ßem Vergnügen lese ich den ganzen
Calderon durch. In den unübersetzen
Lustspielen liegen noch große Schätze
von Poesie und Erfindung verborgen17
Fände sich doch jemand der sie mit
Geschick für das Theater bearbeiten
könnte. Die Schriften des heiligen
Bernhard habe ich auch gelesen, Sil=
bert hat zwei Bände heraus gege=
ben, die auch recht gut übersetzt
sind. Es sind herrliche Gedanken
darin, er ist gewiß der lieblichste
von allen Kirchenvätern, und ich fühle
16 Die Anmerkungen erschienen 1833 im 9. Band von Shakspeare's dramatischen Werken.
17 Calderón de la Barca schrieb mehr als 120 Dramen (die sog. Comedias, die allerdings keine Lustspiele im engeren Sinne darstellen), von denen u.a. E.T.A. Hoffmann, Johann Diederich Gries und A.W. Schlegel einige übersetzten. Die Comedias werden unterschieden in Mantel-und-Degen-Stücke, Ehrendramen, Dramen aus der spanischen Geschichte, religiöse Dramen, philosophische Dramen und mythologische Dramen. Ludwig Tieck hatte 1826 bereits Calderóns Dame Kobold in der Griesschen Übersetzung am Dresdner Hoftheater inszeniert. Das Stück fiel beim Publikum jedoch durch.
wohl weshalb Dante sich von diesem
Sänger der Liebe in den Höchsten Him=
mel einführen läßt, nachdem Beatri=
ce ihn verlassen hat.
Es freut mich daß Sie Löbell wieder
gesehn haben.18 Er bat mich ihm zuwei=
len zu schreiben, und ich konnte es
ihm nicht abschlagen, da er sonst kei=
ne Nachricht von uns bekäme.19 Seine
Briefe sind sehr schön, und die Beant=
wortung macht mir immer etwas
Angst: was man schöne Briefe nen̄t
kann ich nicht schreiben, und wo ich nicht
so ganz frei und offen seyn kann
wie gegen Sie, ist es mir immer et=
was peinliches /
20Von Sternberg habe ich Ihnen lange
nichts erzählt, er ist recht wohl, und wir
haben wieder erfahren was er doch
für ein vortrefflicher Mann ist. Sta=
kelberg21 lebte seit einigen Jahren in
Mannheim, den Sommer wurde er sehr
18 Loebell war seit 1829 Professor für Geschichte in Bonn.
19 Die Briefe von Dorothea Tieck an Johann Wilhelm Loebell sind vermutlich verschollen.
20 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 185) folgt eine unmarkierte Auslassung bis zum Ende des Briefs.
21 Otto Magnus von Stackelberg und Alexander von Ungern-Sternberg verband eine tiefe Freundschaft. Gemeinsam waren sie 1831 durch Süddeutschland gereist. Sternberg widmete dem Freund seine 1832 erschienene Novelle Die Zerrissenen.
krank und wir erfuhren daß er durch
wiederholten Schlagfluß22 fast ganz sei=
ner Sinne beraubt und in dem trau=
rigsten Zustand sey. Sogleich setzte
der gute Sternberg, der selbst leide[...]
war sich auf die Eilpost, machte dor[...]
den Kranken mit vieler Mühe und Ver=
druß von gewissenlosen Aerzten und
Pflegern los und brachte ihn mit her
hat ihn nun bei sich und pflegt ihn wie
ein Vater nur sein Kind pflegen kan̄.
Es geht etwas besser und vielleicht
wird der Arme noch wieder herge=
stellt.23 Eine solche aufopferdnde Freund=
schaft hat etwas sehr Ehrwürdiges,
und ich habe mir vorgenommen ihn nie
mehr schmutzig und langweilig zu
finden; wir sehen ihn weniger weil er
seinen Kranken fast nie verläßt.
22 Veraltet für ,Schlaganfall‘.
23 Stackelberg erholte sich nur sehr langsam und erlitt im April 1834 einen erneuten Schlaganfall; er starb 1837.
Ich habe es diesmal recht lange versäumt Ihren schönen Brief zu beantworten, mein1 theuerster Freund; doch ist es2 für mich selbst am schlimmsten, da ich nun auch um so später wieder3 Nachricht von Ihnen bekomme. Seit wir wieder allein sind hatte ich viel zu thun, denn ich mußte meine ganze Wintergarderobe in Ordnung bringen und so habe ich immerfort genäht: ich bin aber sehr vergnügt dabei gewesen; denn ich mache alle diese Handarbeiten sehr gern.
Wir freuen uns Alle darüber daß Sie wieder an den Chaldäern4 arbeiten, möchte Ihnen doch die Stimmung und Lust daran bleiben, und Sie es bald beendigen. Der Tod des Dichters ist nun ganz gedruckt und ich habe es schon öfter gelesen. Es gehört zu den größten Dichtungen meines Vaters;
1 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 182) fehlt „mein“.
2 Bei Sybel: Erinnerungen steht „es ist“.
3 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 182) fehlt „wieder“.
4 Uechtritz begann die Babylonier in Jerusalem unter dem Titel „Die Chaldäer in Jerusalem“. Vgl. Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 90.
denn es ist aus einer reinen Begeisterung hervor gegangen. Dadurch daß es so frei von aller Bitterkeit und Uebertreibung ist wird es so unbeschreiblich rührend: Wir blicken in die Tiefe des Lebens wie es wirklich ist. Nur die Zerstreuungen der Welt und unser eitler Sinn macht es uns immer wieder vergessen, daß eine so edle Resignation, und ein gänzliches Aufgehen unsrer Seele in Religion, Poesie und Kunst das einzige ist was uns beglücken kann. Dabei ist die ganze Zeit, die Landesart, der Kriegszug, der Ruhm und Fall von Portugall vortrefflich geschildert. Wenn mich etwas stört so ist es der lutherische Cathechismus; denn ein so kleiner Kindercathechismus mit Fragen und Antworten kann wohl keinen Menschen trösten und erbauen; dann glaube ich auch nicht daß die Jesuiten richtig auf=
gefaßt sind, in jener, ihrer schönsten Zeit, haben sie viel für Poesie und Wissenschaft gethan, und waren nichts weniger als beschränkt und bigott. Ich kann die Novelle nicht oft lesen so wehmüthig stimmt sie mich, ich komme mehrere Tage nicht aus den Thränen und obgleich diese Wehmuth höchst lieblich ist, so bin ich doch dann unfähig etwas anderes zu thun, und mit den Menschen fortzuleben auf die gewöhnliche Weise.
5Ich habe Ihren Geheimerath nun auch gelesen und es thut mir leid daß ich mich so hart darüber ausgedrückt habe, doch es geschah in Auftrag meines Vaters.6 Der Charakter des Geheimeraths gefällt mir eigentlich sehr, nur scheint mir sein seltsamer Wahnsinn nicht genug motivirt, auch glaube ich das Ganze passte mehr zu einer Novelle. So wie es hier ist verletzt der tragische Schluß
5 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 183) folgt eine unmarkierte Auslassung der nächsten zwei Absätze bis einschließlich „immer etwas Dunkles“.
6 Im Brief vom 12. September 1833 übermittelte Dorothea Tieck Uechtritz die Kritik ihres Vaters am Geheimerath.
7Frau von Scholz und ihre Tochter bleiben diesen Winter hier, und wir sehen sie oft und erscheint wie eine Art Grausamkeit, da man ihn wirklich nicht erwartet und alles sich zu einem glücklichen Ausgang hinneigt.
Daß Raumers Wilhelmine, bei allem Schönen, etwas Unzusammenhängendes hat finde ich auch. Ich kenne die seltsame Art wie sie entstanden ist, und die Form in der er sie erst geben wollte. Davon erzähle ich Ihnen einmal wenn wir uns sehen, ich mag es dem Papier nicht anvertrauen. Ohne diesen Schlüssel behält die Geschichte immer etwas Dunkles
Wenn Ihnen mein Wohl nur8 irgend am Herzen liegt, liebster Freund, so wünschen Sie es nicht daß wir für immer nach Berlin kommen, mich macht der Gedanke an die Möglichkeit schon unglücklich. Ich habe mich hier in ein so stilles, klösterliches Leben hinein gelebt, und mich so viel es sich nur irgend thun läßt von allem Umgang zurück gezogen, nur darin kann ich Frieden
7 Der folgende Zusatz „Frau von … oft“ steht kopfüber am oberen Rand der Seiten 1 (Bl. 1 recto) und 4 (Bl. 2 verso).
8 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 183) fehlt „nur“.
und Heiterkeit finden, außer dem Hause ist die Kirche und die herrliche Gegend mir ein unbeschreiblicher Genuß; denke ich mich nun in jene Mauern eingeschlossen ohne alle Natur, in tausend gesellige Verhältnisse verwickelt, die wir dort nicht vermeiden könnten, es ist mir als wäre es mein Tod. Könnte ich mich überzeugen daß mein Vater dort glücklicher leben würde, so müßte ich mich selbst darüber vergessen; aber ich glaube gerade das Gegentheil. Wir könnten es nicht vermeiden die stolzen Verwandten9 unsrer Gräfinn zu sehen, und wir selbst haben dort zu viel und verschieden artige Verwandte;10 in allen diesen Verhältnissen würde er sich nicht wohl fühlen, überhaupt ist Berlin gewiß kein Ort für ihn. Sie tadeln mich vielleicht hart wegen meiner Aeußerungen; ich kann es aber nicht ändern daß ich so bin, obgleich ich es gewiß nicht loben werde. Kann
9 Gemeint sind vermutlich die Geschwister Henriette von Finckensteins: Alexander Heinrich Ludwig, Heinrich Friedrich Leopold, Karoline Albertine Juliane, Wilhelm Maximilian Emil und Albertine Ulrike Luise von Finckenstein.
10 Ludwig Tiecks Bruder Friedrich Tieck war 1819 nach Berlin zurückgekehrt.
doch auch11 kein Mensch seiner Länge etwas zusetzen, und so hat jeder sein eignes Element in dem er nur leben und athmen kann: Einsamkeit und stille Thätigkeit ist das einzige worin mein schwacher Geist sich zurechte findet.
12Immermann war einige Zeit hier und wir sahen ihn täglich. Es ist doch schade daß Sie ganz mit ihm zerfallen sind,13 denn er hat doch viel Verstand und alle seine Aeußerungen sind nichts nachgeformtes, sondern ganz eigenthümlich. Hier war er liebenswürdig weil er sich meinem Vater unbedingt unter ordnet doch kann ich mir denken wie er seyn muß wenn er sich für den Ersten hält, und wie es dann nicht mit ihm auszuhalten ist. Obgleich er mir gewissermaßen gefällt könnte ich doch nie Vertrauen zu ihm fassen. Sein Verstand ist zu überwiegend über sein Gemüth, das fühlt man im Leben, wie in allen
11 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 184) fehlt „auch“.
12 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 184) folgt eine unmarkierte Auslassung des folgenden Absatzes bis einschließlich „miteinander stehen“.
13 Über die Ursache des Zerwürnisses ist nichts bekannt. Steitz vermutet, dass „Immermanns Schroffheit und überaus große Reizbarkeit“ zum Bruch geführt haben mögen; vgl. Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 21. 1836 kam es allerdings wieder zu einer Annäherung zwischen Uechtritz und Immermann.
seinen Dichtungen. Sein Tyroler Trauerspiel, das ganz verändert ist,14 las er uns vor, Vieles darin finde ich sehr schön, wie viel schöner würde aber das Ganze seyn wenn, statt der Nichtswürdigkeit der Diplomatik, das tragische Schicksal des Kaisers und der Sturz Deutschlands15 den Hintergrund bildete. Die Begeistrung reicht bei ihm nicht aus, und der kalte Verstand thut zu viel in seinen Dichtungen. Schon dieser Gegensatz, den man immer durchfühlt, und der bei dem wahren Dichter gar nicht existirt, wird ihn nie das Höchste erreichen lassen. Nichts gefällt mir so ganz wie sein Tulifäntchen, es scheint mir in dieser Art etwas Vollendetes. Von Ihnen habe ich gar nicht mit ihm gesprochen, weil ich zu wenig davon weiß, wie Sie miteinander stehen.
Vater hat einige Zeit sehr an Zahn=
14 Immermann überarbeitete 1833, 5 Jahre nach Erscheinen, sein Trauerspiel in Tyrol, angeregt durch die wiederholte Kritik, es sei zu lang. Unter dem Titel Andreas Hofer nahm er die veränderte Fassung 1835 in seine gesammelten Schriften auf.
15 Am 6. August 1806 legte Kaiser Franz II. die Krone des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nationen nieder.
schmerzen gelitten, jetzt geht es ihm wieder besser und er schreibt die letzten Noten zum Shakspear.16 Raumer war auf seiner Rückreise von Wien einige Tage bei uns; er ist sehr munter und freut sich seines neu gekauften und eingerichteten Hause. Ich habe angefangen den ersten Theil seiner neuern Geschichte zu lesen. Mit großem Vergnügen lese ich den ganzen Calderon durch. In den unübersetzen Lustspielen liegen noch große Schätze von Poesie und Erfindung verborgen17 Fände sich doch jemand der sie mit Geschick für das Theater bearbeiten könnte. Die Schriften des heiligen Bernhard habe ich auch gelesen, Silbert hat zwei Bände heraus gegeben, die auch recht gut übersetzt sind. Es sind herrliche Gedanken darin, er ist gewiß der lieblichste von allen Kirchenvätern, und ich fühle
16 Die Anmerkungen erschienen 1833 im 9. Band von Shakspeare's dramatischen Werken.
17 Calderón de la Barca schrieb mehr als 120 Dramen (die sog. Comedias, die allerdings keine Lustspiele im engeren Sinne darstellen), von denen u.a. E.T.A. Hoffmann, Johann Diederich Gries und A.W. Schlegel einige übersetzten. Die Comedias werden unterschieden in Mantel-und-Degen-Stücke, Ehrendramen, Dramen aus der spanischen Geschichte, religiöse Dramen, philosophische Dramen und mythologische Dramen. Ludwig Tieck hatte 1826 bereits Calderóns Dame Kobold in der Griesschen Übersetzung am Dresdner Hoftheater inszeniert. Das Stück fiel beim Publikum jedoch durch.
wohl weshalb Dante sich von diesem Sänger der Liebe in den Höchsten Himmel einführen läßt, nachdem Beatrice ihn verlassen hat.
Es freut mich daß Sie Löbell wieder gesehn haben.18 Er bat mich ihm zuweilen zu schreiben, und ich konnte es ihm nicht abschlagen, da er sonst keine Nachricht von uns bekäme.19 Seine Briefe sind sehr schön, und die Beantwortung macht mir immer etwas Angst: was man schöne Briefe nennt kann ich nicht schreiben, und wo ich nicht so ganz frei und offen seyn kann wie gegen Sie, ist es mir immer etwas peinliches
20Von Sternberg habe ich Ihnen lange nichts erzählt, er ist recht wohl, und wir haben wieder erfahren was er doch für ein vortrefflicher Mann ist. Stakelberg21 lebte seit einigen Jahren in Mannheim, den Sommer wurde er sehr
18 Loebell war seit 1829 Professor für Geschichte in Bonn.
19 Die Briefe von Dorothea Tieck an Johann Wilhelm Loebell sind vermutlich verschollen.
20 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 185) folgt eine unmarkierte Auslassung bis zum Ende des Briefs.
21 Otto Magnus von Stackelberg und Alexander von Ungern-Sternberg verband eine tiefe Freundschaft. Gemeinsam waren sie 1831 durch Süddeutschland gereist. Sternberg widmete dem Freund seine 1832 erschienene Novelle Die Zerrissenen.
krank und wir erfuhren daß er durch wiederholten Schlagfluß22 fast ganz seiner Sinne beraubt und in dem traurigsten Zustand sey. Sogleich setzte der gute Sternberg, der selbst leide[nd] war sich auf die Eilpost, machte dor[t] den Kranken mit vieler Mühe und Verdruß von gewissenlosen Aerzten und Pflegern los und brachte ihn mit her hat ihn nun bei sich und pflegt ihn wie ein Vater nur sein Kind pflegen kann. Es geht etwas besser und vielleicht wird der Arme noch wieder hergestellt.23 Eine solche aufopfernde Freundschaft hat etwas sehr Ehrwürdiges, und ich habe mir vorgenommen ihn nie mehr schmutzig und langweilig zu finden; wir sehen ihn weniger weil er seinen Kranken fast nie verläßt.
Leben Sie nun wohl theuerster Freund und schreiben Sie mir bald. Ihre Briefe gehören zu den wahren Freuden meines Lebens. Alle grüßen Sie herzlich Ihre Dorothea.22 Veraltet für ,Schlaganfall‘.
23 Stackelberg erholte sich nur sehr langsam und erlitt im April 1834 einen erneuten Schlaganfall; er starb 1837.