
Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz
Weiterverwendung nur mit Genehmigung der Bibliothek
Dresden den 10 April 1835.
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Recht lange, theuerster Freund, haben Sie
uns diesmal auf Nachricht warten lassen;
doch finde ich es sehr natürlich daß Sie während
Ihrer poetischen Arbeiten1 keine Lust zum
Briefe schreiben haben, nur kann man sich
nicht immer der Besorgniß erwehren ob
nicht Krankheit das Schweigen veranlasst.
Ich freue mich sehr daß es Ihnen wohl geht
und daß Sie fleißig sind. Auch bei uns geht
es ja, Gott sey Dank, mit der Besserung2
vorwärts, obwohl sehr langsam. Carus ist
zufrieden und die Kräfte haben sich doch
auch seit Monathen sehr gebessert, wir
fahren und gehen nun schon an schönen
Tagen etwas aus und wenn es erst so
ist daß die Mutter fast den ganzen Tag
im Freien seyn kann wird sie sich wohl
noch mehr erholen. Dazu haben wir ein so=
genanntes Sommerplaisir3 in einem
schönen großen Garten gemiethet, der
1 Uechtritz arbeitete am Abschluss der Babylonier.
2 Dorotheas Mutter, Amalia Tieck, litt seit gut einem Jahr an Unterleibsbeschwerden und Wasseransammlung in den Beinen.
3 Vermutlich ist die Geißblattlaube gemeint, von der Dorothea bereits im Brief vom 20. Juni 1834, S. 3 f. (Bl. 2 recto f.) berichtete.
auf das Feld hinaus geht, und wo die Luft
so frei und rein ist wie auf dem Lande.
Um dort zu schlafen ist es nicht, das wäre
auch zu unbequem für die Wirthschaft,
es ist aber nicht weit von uns und so kan̄
man leicht jeden Morgen hinaus gehen.
Daß Sie davon sprachen den Som̄er her
zu kommen4 wie von einer ausgemachten
Sache bekglückt uns alle sehr, tdann kön̄en
wir wieder einer schönen Zeit entgegen
sehen. Man kann es doch nie lassen zu
hoffen und an die Zukunft zu denken,
so bald es einem nur ein wenig besser
geht; und doch habe ich jetzt eine recht
melancholische Zeit, zum Theil ist es wohl
körperlich, denn ich habe fast unaufhör=
lich so an Zahnweh gelitten daß ich es
kaum aushalten konnte, es kommt bei
mir wohl großentheils von den Nerven
darum sehe ich auch, so wie es vorbei ist
wieder wohl aus, fühle mich aber ange=
griffener als nach einer wirklichen
Krankheit, und besonders Kopf und Ge=
dächtniß so schwach daß mir jede Beschäf=
tigung und jeder Brief sehr schwer wird.
Auch |wenn ich daran denke wie stark,
kräftig und blühend die Mutter vor einem
Jahre noch war und sie jetzt anseh, geht
es mir immer durch die Seele; und doch
sind, seit sie krank ist aus unsrer Be=
kanntschaft schon viele gestorben die
kräftig und gesund waren. Es ist wohl
eine ganz besondre Wohlthat Gottes daß
wir eigentlich nichts auf dieser Welt un=
ser nennen können, dadurch wird es mit
jedem Tage von neuem ein liebreiches
Geschenk des him̄lischen Vaters, das ver=
gessen wir aber nur gar zu leicht und
bilden uns ein wir hätten ein Recht
daran. Der christliche Glaube verschmelzt
Schmerz und Freude so in eins, daß
sie gar nicht mehr zu sondern sind
Vor kurzem hat mein Vater wieder die
Rosamunde und den Alexander vor=
gelesen, wir hören immer diese schönen
Gedichte mit neuem Vergnügen und sie
verfehlen nie ihre Wirkung auch bei den
verschiedenartigsten Zuhörern. Ich kan̄
nicht sagen wie begierig ich auf die Chal=
däer5 bin, die bringen sie doch auf jeden
Fall mit wenn Sie kommen.
Was Sie mir über Manzoni schreiben6 ist
außerordentlich schön und spricht ganz
mein Gefühl aus,7 daß dies Buch nicht
mehr Aufsehen gemacht reicht hin um uns=
re Zeit nicht für eine erleuchtete zu
halten. Was sagen Sie zu dem Buch8
von der verrückten Bettina Arnim?
Baudissin hat uns neulich einen Abend
Bruchstücke daraus vorgelesen, und ich
glaube nicht daß je eine ähnliche Frech=
heit da gewesen ist, denn aus der Un=
richtigkeit der Daten ergiebt sich daß
die meisten ihrer Briefe erst jetzt ge=
schmieret sind, wenigstens in der Gestalt
wie wir sie sehen, und so klein und un=
5 Uechtritz begann die Babylonier in Jerusalem unter dem Titel „Die Chaldäer in Jerusalem“. Vgl. Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 90.
6 Vgl. Dorotheas Urteil über Manzoni im Brief vom 21. Januar 1835, S. 6 f. (Bl. 3 verso f.).
7 In einem Brief an seinen Vater vom 30. März 1835 schreibt Uechtritz: „[…] der Roman die Verlobten, von Manzoni, […] ist eines der edelsten Bücher, die je geschrieben worden.“ (Sybel: Erinnerungen, S. 140.)
8 Bettina von Arnims teilfiktiver und selbstinszenierender Briefroman Goethes Briefwechsel mit einem Kinde war 1835 in 3 Bänden erschienen und hatte für allgemeines Aufsehen gesorgt.
bedeutend die von Goethe auch sind so scheint
mir doch auch darin vieles verfälscht.
Meines Vaters Ausspruch darüber war sehr
einfach, denn erstlich meinte er in dem
Titel: Goethes Briefwechsel mit einem
Kinde, solle man das K. in ein R. ver=
wandeln, und am Schluß sagte er mit
einem tiefen Seufzer: Ja, man erlebt
doch mitunter etwas Viehisches! Dergleichen
Kraftausdrücke scheinen mir die beßte
Kritik, denn es ist eigentlich zu nichts=
würdig um ernsthaft darüber zu sprechen
Ihre Grüße an die Buttlar und Scholz habe
ich bestellt, letztere läßt Ihnen sagen:
Es gebe Freunde sehr verschiedner Art,
sie habe einen der sogar aus [Trir] schrie=
be. Beide Scholzens sind doch im innersten
Grunde sehr gut, und wenn man ihnen
auch zuweilen böse seyn kann, man ge=
winnt sie doch immer wieder lieb, auch
können sie aAufrichtigkeit vertragen,
und das ist für mich ein großer Vortheil
weil ich sehr gern aufrichtig bin. Ich habe
alle Bekannten diesen Winter wenig ge=
sehen, die Pflege der Mutter so wie mei=
ne eigne Kränklichkeit hat mich sehr an
das Haus gefesselt.
Ich muß schließen, mein theuerster Tausend Grüße von den Meinigen
Freund, denn das Schreiben greift mich
zu sehr an. Verzeihen Sie meine Krähen=
füße.
und von Ihrer Dorothea T.
Dresden den 10 April 1835. Recht lange, theuerster Freund, haben Sie uns diesmal auf Nachricht warten lassen; doch finde ich es sehr natürlich daß Sie während Ihrer poetischen Arbeiten1 keine Lust zum Briefe schreiben haben, nur kann man sich nicht immer der Besorgniß erwehren ob nicht Krankheit das Schweigen veranlasst. Ich freue mich sehr daß es Ihnen wohl geht und daß Sie fleißig sind. Auch bei uns geht es ja, Gott sey Dank, mit der Besserung2 vorwärts, obwohl sehr langsam. Carus ist zufrieden und die Kräfte haben sich doch auch seit Monathen sehr gebessert, wir fahren und gehen nun schon an schönen Tagen etwas aus und wenn es erst so ist daß die Mutter fast den ganzen Tag im Freien seyn kann wird sie sich wohl noch mehr erholen. Dazu haben wir ein sogenanntes Sommerplaisir3 in einem schönen großen Garten gemiethet, der
1 Uechtritz arbeitete am Abschluss der Babylonier.
2 Dorotheas Mutter, Amalia Tieck, litt seit gut einem Jahr an Unterleibsbeschwerden und Wasseransammlung in den Beinen.
3 Vermutlich ist die Geißblattlaube gemeint, von der Dorothea bereits im Brief vom 20. Juni 1834, S. 3 f. (Bl. 2 recto f.) berichtete.
auf das Feld hinaus geht, und wo die Luft so frei und rein ist wie auf dem Lande. Um dort zu schlafen ist es nicht, das wäre auch zu unbequem für die Wirthschaft, es ist aber nicht weit von uns und so kann man leicht jeden Morgen hinaus gehen.
Daß Sie davon sprachen den Sommer her zu kommen4 wie von einer ausgemachten Sache beglückt uns alle sehr, dann können wir wieder einer schönen Zeit entgegen sehen. Man kann es doch nie lassen zu hoffen und an die Zukunft zu denken, so bald es einem nur ein wenig besser geht; und doch habe ich jetzt eine recht melancholische Zeit, zum Theil ist es wohl körperlich, denn ich habe fast unaufhörlich so an Zahnweh gelitten daß ich es kaum aushalten konnte, es kommt bei mir wohl großentheils von den Nerven darum sehe ich auch, so wie es vorbei ist wieder wohl aus, fühle mich aber angegriffener als nach einer wirklichen
Krankheit, und besonders Kopf und Gedächtniß so schwach daß mir jede Beschäftigung und jeder Brief sehr schwer wird. Auch wenn ich daran denke wie stark, kräftig und blühend die Mutter vor einem Jahre noch war und sie jetzt anseh, geht es mir immer durch die Seele; und doch sind, seit sie krank ist aus unsrer Bekanntschaft schon viele gestorben die kräftig und gesund waren. Es ist wohl eine ganz besondre Wohlthat Gottes daß wir eigentlich nichts auf dieser Welt unser nennen können, dadurch wird es mit jedem Tage von neuem ein liebreiches Geschenk des himmlischen Vaters, das vergessen wir aber nur gar zu leicht und bilden uns ein wir hätten ein Recht daran. Der christliche Glaube verschmelzt Schmerz und Freude so in eins, daß sie gar nicht mehr zu sondern sind
Vor kurzem hat mein Vater wieder die Rosamunde und den Alexander vor=
gelesen, wir hören immer diese schönen Gedichte mit neuem Vergnügen und sie verfehlen nie ihre Wirkung auch bei den verschiedenartigsten Zuhörern. Ich kann nicht sagen wie begierig ich auf die Chaldäer5 bin, die bringen sie doch auf jeden Fall mit wenn Sie kommen.
Was Sie mir über Manzoni schreiben6 ist außerordentlich schön und spricht ganz mein Gefühl aus,7 daß dies Buch nicht mehr Aufsehen gemacht reicht hin um unsre Zeit nicht für eine erleuchtete zu halten. Was sagen Sie zu dem Buch8 von der verrückten Bettina Arnim? Baudissin hat uns neulich einen Abend Bruchstücke daraus vorgelesen, und ich glaube nicht daß je eine ähnliche Frechheit da gewesen ist, denn aus der Unrichtigkeit der Daten ergiebt sich daß die meisten ihrer Briefe erst jetzt geschmieret sind, wenigstens in der Gestalt wie wir sie sehen, und so klein und un=
5 Uechtritz begann die Babylonier in Jerusalem unter dem Titel „Die Chaldäer in Jerusalem“. Vgl. Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter, S. 90.
6 Vgl. Dorotheas Urteil über Manzoni im Brief vom 21. Januar 1835, S. 6 f. (Bl. 3 verso f.).
7 In einem Brief an seinen Vater vom 30. März 1835 schreibt Uechtritz: „[…] der Roman die Verlobten, von Manzoni, […] ist eines der edelsten Bücher, die je geschrieben worden.“ (Sybel: Erinnerungen, S. 140.)
8 Bettina von Arnims teilfiktiver und selbstinszenierender Briefroman Goethes Briefwechsel mit einem Kinde war 1835 in 3 Bänden erschienen und hatte für allgemeines Aufsehen gesorgt.
bedeutend die von Goethe auch sind so scheint mir doch auch darin vieles verfälscht. Meines Vaters Ausspruch darüber war sehr einfach, denn erstlich meinte er in dem Titel: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, solle man das K. in ein R. verwandeln, und am Schluß sagte er mit einem tiefen Seufzer: Ja, man erlebt doch mitunter etwas Viehisches! Dergleichen Kraftausdrücke scheinen mir die beßte Kritik, denn es ist eigentlich zu nichtswürdig um ernsthaft darüber zu sprechen
Ihre Grüße an die Buttlar und Scholz habe ich bestellt, letztere läßt Ihnen sagen: Es gebe Freunde sehr verschiedner Art, sie habe einen der sogar aus [Trir] schriebe. Beide Scholzens sind doch im innersten Grunde sehr gut, und wenn man ihnen auch zuweilen böse seyn kann, man gewinnt sie doch immer wieder lieb, auch können sie Aufrichtigkeit vertragen, und das ist für mich ein großer Vortheil
weil ich sehr gern aufrichtig bin. Ich habe alle Bekannten diesen Winter wenig gesehen, die Pflege der Mutter so wie meine eigne Kränklichkeit hat mich sehr an das Haus gefesselt.
Ich muß schließen, mein theuerster Freund, denn das Schreiben greift mich zu sehr an. Verzeihen Sie meine Krähenfüße. Tausend Grüße von den Meinigen und von Ihrer Dorothea Tieck