
Upper Lusatian Library of Sciences, Görlitz
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Dresden den 7 Octobr 1835.
Diesmal, mein theuerster Freund, ist es nicht
meine Nachlässigkeit daß ich Ihnen nicht eher
geantwortet habe; im Gegentheil, das War=
ten wurde mir recht schwer, da aber mein
Vater mit schreiben wollte mußte ich wohl
warten, und es blieb mir nichts übrig als ihn
täglich zu erinnern. Da dies bis jetzt nun
nicht geholfen hat werde ich endlich ungedul=
dig und schreibe ohne ihn, aber sage es ihm
nicht, damit er keinen Vorwand hat gar nicht
zu schreiben, sein Brief1 mag dann nachge=
schickt werden. Jetzt ist nun Raumer hier,
und die Proben zum Egmont2 nehmen
einige Zeit weg, so möchte es doch zu lan=
ge dauern ehe Sie Nachricht bekämen. Daß
mein Vater mit Ihrem Gedicht3 sehr zufrieden
ist kann ich Ihnen vorläufig sagen, und
durchaus nichts darin zu tadeln fand als
einige unbedeutende Ausdrücke und Verse.
Er war sehr erschüttert als E er es uns
1 Ein Brief Ludwig Tiecks konnte nicht nachgewiesen werden.
2 Nach Friesen: Ludwig Tieck, S. 192 f. fand die Vorstellung bereits am 8. Oktober 1835 statt.
3 Uechtritz hatte das noch nicht erschienene dramatische Gedicht Die Babylonier in Jerusalem in Manuskriptform nach Dresden gesandt; vgl. S. 5 (Bl. 3 recto).
vorgelesen hatte, und sagte: ein so tiefsin=
niges, originelles Werk müsse er öfter
lesen und viel überdenken ehe er etwas
darüber sagen könne, er wolle Ihnen auch
deshalb selbst schreiben. Ueber alle diese
Einleitungen habe ich aber, wie ich sehe, die
Hauptsache vergessen: nämlich, Ihnen herz=
lich dafür zu danken daß Sie uns Ihr Gedicht
gesendet, es hat einen unbeschreiblichen Ein=
druck auf mich gemacht, und ist wieder
so ganz eigenthümlich und ganz anders
wie Ihre früheren Sachen. Der Charakter
des Königs4 ist sehr schön durchgeführt und
gegenüber die Gestalt des Jeremias,
so großartig und ganz wie man sich
die Propheten und Verkünder des Messi=
as denkt. Die Stellen wo uns das Bild
des Heilandes in seiner Niedrigkeit und
Schmach vorgeführt wird sind ergreifend
und es scheint mir gerade sehr schön
daß nicht mehr und deutlicher von ihm
gesprochen wird, weil dies auch so ganz
4 Der neubabylonische König Nebukadnezar II.
der Ton der Propheten ist. Ihr Gedicht hat
mir in dieser Zeit immer im Kopf gelegen
und ich habe 5 so viel damit beschäftigt daß
ich mir denke es muß auf alle, welchen
die Poesie nicht ein bloßer Zeitvertreib
seyn soll einen großen Eindruck machen
Sie haben sich recht in den Ton der Propheten
hinein gelesen, der Schluß macht wirklich
ganz den Eindruck wie die Klagelieder
Jeremiä,6 die ich immer so sehr geliebt
haben, und doch steht das Ganze wieder
so eigenthümlich da und hat für sich eine
so große poetische Kraft und Schönheit.
Ich möchte Ihnen gern recht viel darüber
sagen, mein theuerster Freund, und
fühle mich doch im Schreiben so ungeschickt
und es gelingt mir so wenig meine
Gedanken ausszusprechen. Diese Unge=
schicklichkeit nim̄t sehr bei mir zu, und
ich versinke, ohne es zu wollen immer
mehr in mich selbst. Wären Sie nur ge=
kommen, mündlich und durch gegenseitige
5 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 197) wurde „mich“ hinzugefügt.
6 Die Klagelieder Jeremias sind Teil des Tanachs sowie des Alten Testaments.
Mittheilung verständigt man sich viel eher
Im ersten Augenblick verursachte mir die
Ankunft Ihres Briefes mit dem Packet
einen kleinen Schreck, weil ich doch halb und
halb noch immer darauf gehofft hatte
Sie würden selbst kommen, das wäre
dann freilich sehr schön gewesen. Doch ich
will und darf nicht klagen, und jede Un=
zufriedenheit worüber es auch seyn mag
kommt mir sündlich vor, da ich so große
Ursach habe dankbar gegen Gott zu
seyn, und es vergeht auch wohl keine Stun=
de in der sich mein Dank gegen ihn nicht
erneuert, da es meiner Mutter so gut
und über alle Hoffnung und Erwartung
gut geht, daß wir sie fast wie ganz gene=
sen ansehen können. Ich fühle erst jetzt
was ich das ganze verfloßne Jahr hindurch
gelitten habe, und ich kann jetzt nicht
begreifen wie ich es nur aushielt. Vater
ist auch recht wohl, 7 wir leben ruhig und
heiter // 8und haben den schönen Sommer
7 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 198) wurde „und“ hinzugefügt.
8 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 198) folgt eine markierte Auslassung bis zum Ende des Briefs.
eine rechte Landplage gewesen, so daß wir
oft in langer Zeit keinen freien Abend
hatten. Schreiben Sie mir doch, liebster Freund,
ob Ihr Gedicht bald gedruckt wird, und ob
wir Ihnen das Manuskript wieder zurück
schicken sollen, ich habe mir eigentlich Vorwür=
fe gemacht daß ich Sie bat9 es uns zu senden
ich fürchte das Abschreiben hat Ihnen viel Um=
stände gemacht.
Die Buttlar war den ganzen Sommer bei
ihrem Mann in Böhmen und ist erst seit
kurzem wieder hier. Scholzens gehen den
1ten November nach Berlin zurück. Sie ist hier
immer sehr unzufrieden und unglücklich, wird
es aber überall seyn, die arme Emma
hat wirklich viel mit ihr auszustehen. Es
ist sehr schlimm wenn eine Frau ganz aus
ihrem Kreise tritt, und weiblichen Umgang
wie weibliche Beschäftigungen verschmäht
ein solcher Mißgriff rächt sich später stets.
In einigen Tagen ist der Egmont10 und wir
sind alle sehr gespannt darauf, Porth spielt
9 Vgl. Brief vom 27. Juli 1835, S. 4 (Bl. 2 verso).
10 S. o. Anmerkung zu S. 1 (Bl. 1 recto).
den Alba und wird gewiß recht gut seyn, er
hat seine Rollen in denen ich ihn sehr gern
habe, er ist mir überhaupt einer der liebsten
von unsern Schauspielern, er kann sehr komisch
seyn und hat einen kleinen Anstrich von Ver=
rücktheit, der ihm gut steht und zu seinem
Stande paßt.
Mutter und Agnes grüßen herzlich, Vater
weiß, wie gesagt, nicht daß ich schreibe, wen̄
wir mit Raumers Briefen fertig sind,
werde ich meine Ermahnungen wieder fort
setzen. Schreiben Sie mir recht bald wie
es Ihnen geht, theuerster Freund, ich hoffe
Sie sind so zufrieden und ruhig wie ich. Ich
kann nicht wünschen daß Sie Ihren Aufent=
halt verändern, weil es Ihnen dort so wohl geht,
aber daß Düsseldorf nicht weiter von Dresden
wäre als Berlin, das wünsche ich oft
Leben Sie wohl und erfreuen Sie bald
durch einen Brief, Ihre Freundinn
Dorothea T.
Dresden den 7 October 1835. Diesmal, mein theuerster Freund, ist es nicht meine Nachlässigkeit daß ich Ihnen nicht eher geantwortet habe; im Gegentheil, das Warten wurde mir recht schwer, da aber mein Vater mit schreiben wollte mußte ich wohl warten, und es blieb mir nichts übrig als ihn täglich zu erinnern. Da dies bis jetzt nun nicht geholfen hat werde ich endlich ungeduldig und schreibe ohne ihn, aber sage es ihm nicht, damit er keinen Vorwand hat gar nicht zu schreiben, sein Brief1 mag dann nachgeschickt werden. Jetzt ist nun Raumer hier, und die Proben zum Egmont2 nehmen einige Zeit weg, so möchte es doch zu lange dauern ehe Sie Nachricht bekämen. Daß mein Vater mit Ihrem Gedicht3 sehr zufrieden ist kann ich Ihnen vorläufig sagen, und durchaus nichts darin zu tadeln fand als einige unbedeutende Ausdrücke und Verse. Er war sehr erschüttert als er es uns
1 Ein Brief Ludwig Tiecks konnte nicht nachgewiesen werden.
2 Nach Friesen: Ludwig Tieck, S. 192 f. fand die Vorstellung bereits am 8. Oktober 1835 statt.
3 Uechtritz hatte das noch nicht erschienene dramatische Gedicht Die Babylonier in Jerusalem in Manuskriptform nach Dresden gesandt; vgl. S. 5 (Bl. 3 recto).
vorgelesen hatte, und sagte: ein so tiefsinniges, originelles Werk müsse er öfter lesen und viel überdenken ehe er etwas darüber sagen könne, er wolle Ihnen auch deshalb selbst schreiben. Ueber alle diese Einleitungen habe ich aber, wie ich sehe, die Hauptsache vergessen: nämlich, Ihnen herzlich dafür zu danken daß Sie uns Ihr Gedicht gesendet, es hat einen unbeschreiblichen Eindruck auf mich gemacht, und ist wieder so ganz eigenthümlich und ganz anders wie Ihre früheren Sachen. Der Charakter des Königs4 ist sehr schön durchgeführt und gegenüber die Gestalt des Jeremias, so großartig und ganz wie man sich die Propheten und Verkünder des Messias denkt. Die Stellen wo uns das Bild des Heilandes in seiner Niedrigkeit und Schmach vorgeführt wird sind ergreifend und es scheint mir gerade sehr schön daß nicht mehr und deutlicher von ihm gesprochen wird, weil dies auch so ganz
4 Der neubabylonische König Nebukadnezar II.
der Ton der Propheten ist. Ihr Gedicht hat mir in dieser Zeit immer im Kopf gelegen und ich habe 5 so viel damit beschäftigt daß ich mir denke es muß auf alle, welchen die Poesie nicht ein bloßer Zeitvertreib seyn soll einen großen Eindruck machen Sie haben sich recht in den Ton der Propheten hinein gelesen, der Schluß macht wirklich ganz den Eindruck wie die Klagelieder Jeremiä,6 die ich immer so sehr geliebt habe, und doch steht das Ganze wieder so eigenthümlich da und hat für sich eine so große poetische Kraft und Schönheit. Ich möchte Ihnen gern recht viel darüber sagen, mein theuerster Freund, und fühle mich doch im Schreiben so ungeschickt und es gelingt mir so wenig meine Gedanken auszusprechen. Diese Ungeschicklichkeit nimmt sehr bei mir zu, und ich versinke, ohne es zu wollen immer mehr in mich selbst. Wären Sie nur gekommen, mündlich und durch gegenseitige
5 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 197) wurde „mich“ hinzugefügt.
6 Die Klagelieder Jeremias sind Teil des Tanachs sowie des Alten Testaments.
Mittheilung verständigt man sich viel eher Im ersten Augenblick verursachte mir die Ankunft Ihres Briefes mit dem Packet einen kleinen Schreck, weil ich doch halb und halb noch immer darauf gehofft hatte Sie würden selbst kommen, das wäre dann freilich sehr schön gewesen. Doch ich will und darf nicht klagen, und jede Unzufriedenheit worüber es auch seyn mag kommt mir sündlich vor, da ich so große Ursach habe dankbar gegen Gott zu seyn, und es vergeht auch wohl keine Stunde in der sich mein Dank gegen ihn nicht erneuert, da es meiner Mutter so gut und über alle Hoffnung und Erwartung gut geht, daß wir sie fast wie ganz genesen ansehen können. Ich fühle erst jetzt was ich das ganze verfloßne Jahr hindurch gelitten habe, und ich kann jetzt nicht begreifen wie ich es nur aushielt. Vater ist auch recht wohl, 7 wir leben ruhig und heiter 8und haben den schönen Sommer
7 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 198) wurde „und“ hinzugefügt.
8 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 198) folgt eine markierte Auslassung bis zum Ende des Briefs.
eine rechte Landplage gewesen, so daß wir oft in langer Zeit keinen freien Abend hatten. Schreiben Sie mir doch, liebster Freund, ob Ihr Gedicht bald gedruckt wird, und ob wir Ihnen das Manuskript wieder zurück schicken sollen, ich habe mir eigentlich Vorwürfe gemacht daß ich Sie bat9 es uns zu senden ich fürchte das Abschreiben hat Ihnen viel Umstände gemacht.
Die Buttlar war den ganzen Sommer bei ihrem Mann in Böhmen und ist erst seit kurzem wieder hier. Scholzens gehen den 1ten November nach Berlin zurück. Sie ist hier immer sehr unzufrieden und unglücklich, wird es aber überall seyn, die arme Emma hat wirklich viel mit ihr auszustehen. Es ist sehr schlimm wenn eine Frau ganz aus ihrem Kreise tritt, und weiblichen Umgang wie weibliche Beschäftigungen verschmäht ein solcher Mißgriff rächt sich später stets. In einigen Tagen ist der Egmont10 und wir sind alle sehr gespannt darauf, Porth spielt
9 Vgl. Brief vom 27. Juli 1835, S. 4 (Bl. 2 verso).
10 S. o. Anmerkung zu S. 1 (Bl. 1 recto).
den Alba und wird gewiß recht gut seyn, er hat seine Rollen in denen ich ihn sehr gern habe, er ist mir überhaupt einer der liebsten von unsern Schauspielern, er kann sehr komisch seyn und hat einen kleinen Anstrich von Verrücktheit, der ihm gut steht und zu seinem Stande paßt.
Mutter und Agnes grüßen herzlich, Vater weiß, wie gesagt, nicht daß ich schreibe, wenn wir mit Raumers Briefen fertig sind, werde ich meine Ermahnungen wieder fort setzen. Schreiben Sie mir recht bald wie es Ihnen geht, theuerster Freund, ich hoffe Sie sind so zufrieden und ruhig wie ich. Ich kann nicht wünschen daß Sie Ihren Aufenthalt verändern, weil es Ihnen dort so wohl geht, aber daß Düsseldorf nicht weiter von Dresden wäre als Berlin, das wünsche ich oft
Leben Sie wohl und erfreuen Sie bald durch einen Brief, Ihre Freundinn Dorothea Tieck