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Letter from Ludwig Tieck to Friedrich von Raumer (Jena, 6 October 1828)

 

 

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251
Tieck an Raumer 6 Okt. 28

Geliebter Freund,

So waren wir denn nun recht lange ge=
trennt, auch war ich ziemlich weit von Ihnen ent=
fernt. Heut wird Ihr Bruder Carl hier ankom̄en, und
ich freue mich sehr darauf, ihn nach so manchem Jahre
wieder zu sehn. Ich war zwei Tage in Erlangen,
und habe mich gefreut, die Frau so vernünftig zu fin=
den. Jezt, nach Jahren und nach so mancher bittren
Erfahrung spricht sie ohngefähr eben so, wie wir von
je an diese unselige Unternehmung ansahen. Von
Halle haben wir alle nichts erwähnt, u der pietisti=
sche Zunftgeist, der die Menschen so engherzig macht,
ist freilich noch immer vorherrschend. Die Haus=
wirthschaft in Erlangen schien gut geordnet, u Rieke
war so gut, u drang darauf, daß wir die 2/1/2 Tage
bei ihr wohnen mußten. Die älteste Tochter Doro=
thea ist gut u lieb, hat aber gar nichts gelesen,
das darf, nach dem System der Neufrom̄en, ein
junges Mädchen nicht: natürlich ist ihnen die Verlo=
bung
zu gottlos, u die Genoveva zu from̄, von
der Seite, die ihnen wieder als gottlos erscheint.
Sonst scheinen die Kinder sehr gut geartet, u der
kleinere Junge Hans hat durch seine dreiste An=
stelligkeit mein ganzes Hertz gewonnen: Das
Kind ist ganz Liebe u Verstand, dabei von der
einfachsten Natürlichkeit. Schade, daß das nun
auch so in den engen Geist conventionellen From̄=
seins hineingetrieben wird, und doch einen Theil

der freien und fröhlichen Jugend verliehrt. Denn
so schleppt er sich immer mit der Bibel herum,
u hat, noch schlimmer, Bogazky's Schatzkästlein
als Lesebuch immer bei sich. Die Ifigenia von
Göthe, Rieke protestirte, mußte am Abend nicht
gelesen werden, weil, wie sie sagte, Dorothe (die
ihrige) kein Wort davon verstehen würde. Ge=
wiß nur Vorwand; denn wer versteht dies Ge=
dicht nicht? Göthe ist aber bei diesen From̄en
u Altdeutschen, Republikanischen Puritanern ganz
und gar proskribirt, das habe ich allenthalben ge=
funden, es ist, wie Verabredung. Und dan̄ thut bei
Rieke gewiß die heidnische Fabel vieles, nur das
Stück zu verwerfen. Wir lasen dafür die
Som̄ernacht, die wirklich schwer zu verstehen ist.

Sie waren nun auch in Dessau, u wären
vielleicht nach Dresden gekom̄en, wenn ich schon
zurück gekehrt wäre. Ja, Sie wären vielleicht
aus treuer Freundschaft mit Ihrem Bruder hierher ge=
kom̄en, wenn Sie gewußt hätten, daß ich hier wäre.
Wird es nur nicht zu spät, da Sie auch schon gereiset
sind? Den 15 oder 16t Octbr denke ich wieder in
Dresden zu sein: Hier, bei From̄ann haben wir einige
Ruhetage gehabt, in Weimar denke ich zwei oder
drei Tage zu bleiben, und bin morgen bei Göthe ein=
geladen. In Leipzig werden mich Geschäfte noch
einige Tage aufhalten. Könnte ich Sie noch sehn,
so wäre dadurch dieser genußreiche, fast wunderbare
Som̄er auf die schönste Weise beschlossen.

252
Den Alten vom Berge werden Sie nun schon,
so wie er denn nur fertig gemacht ist, gelesen haben.
Der Ernst dieser Geschichte wird ihm nicht so viel Freude
schaffen, als sich der Gelehrte erworben hat. Haben
Sie schon den Prolog, eine kleine Novelle, zum
Dichterleben
gelesen? 5 Bde meiner Schriften
sind ja nun auch heraus: Die ungeschickten Zei=
len, die vor dem Ersten Bde an Sie gerichtet sind1,
müssen Sie, Geliebter, ganz mit der Nachsicht eines
Freundes aufnehmen. Vor meiner Abreise war
ich sehr fleissig, den̄ die 5 nächsten Bde sind schon
von mir alle durchgesehn, u hier und da verbessert.

Bei W. Schlegel habe ich in Bonn 16 Tage ge=
wohnt, das ist mir lieb, daß wir uns wieder ganz
so nahe gekom̄en sind, wie es nur irgend vor 25
Jahren
war. Ich finde ihn eigentlich nicht verändert,
ausser, was die Zeit über ihn vermacht hat. Auf
den Bruder in Wien ist er sehr böse. Man kann
ihm nicht Unrecht geben. Wen̄ er öffentl. gegen ihn
auftreten wird, so wird es ganz von der Art u Wei=
se abhangen, ob er etwas Trefliches oder Tadelns=
würdiges thut. Ich habe seine Leidenschaftlichkeit
zu mässigen gesucht. Aber die 15 Vorlesungen
des Friedrich sind für mich ganz ungenießbar: ich
habe in Bon̄ oft den Ansatz genom̄en, habe aber
kein Interesse für diese sofistischen, u grossen
Theils schlecht geschriebenen Anklagen des Besseren
u Vertheidigungen des Schlechten, finden kön̄en.

Comments

1 Die entsprechende Widmung im Band 1 von Tiecks bei Reimer erschienenen Schriften lautet: „Dem Regierungsrathe und Professor Friedrich v. Raumer gewidmet. Geliebter Freund, In meiner Sammlung der Schauspiele des Lope finden sich einige Bände, in denen er jedes einzelne Stück einem Freunde oder Beschützer widmet. Hätte er diese Gewohnheit immer befolgt, so konnte seine Schauspielsammlung dreihundert Freunde namhaft machen. Diese Art und Weise hat mir so wohl gefallen, daß ich als Nachahmer jeden Band meiner Schriften einem Freunde oder Jemand, mit dem ich viel gelebt, der mehr oder minder Einfluß auf mich ausgeübt hat, zuschreiben will. Da fällt natürlich Ihr Name mir mit den ersten ein. Ihre treue Freundschaft, Ihr Wohlwollen, alles, was Sie mir mitgetheilt haben, zwingt mich zur Dankbarkeit. Ihnen, dem das mannichfaltige Bild der Geschichte sich so klar entwickelt hat, der Scherz und Ernst so gern verbindet, dem das Mittelalter und dessen poetische Töne nicht fremd sind, gefällt auch, wie ich weiß, diese bunte Dichtung des Octavian. Möge Ihnen dieses lebensfrohe Gemälde Freude und Heiterkeit gewähren, und Sie diese wenigen Worte mit Freundlichkeit aufnehmen, die nur an unsre vieljährige Freundschaft erinnern sollen. L. Tieck.“

Vielerlei hätte ich mit Ihnen zu sprechen. Die
Reise hat meine Erfahrungen bereichert. Ich habe
auch den Menzel aus Stuttgard ken̄en lernen.
Verstockt gegen Göthe, aus Sektengeiste, wie gegen
Joh. Müller, der auch bei dsem völlig die Gunst
verlohren hat. O ihr Deutschen! Uebertriebene, ja
sklavische Anbetung, u den̄ Schmach u Hohn: keine
vernünftige Mitte, nirgend! Man gewöhnt sich
auch daran, u ich lache jezt nur, statt zu zürnen.
Schelling soll in München einen ganz neuen
philosophischen Lehr= und Lebenslauf begin̄en.
Nach manchen Erzählungen möchte ich fast glau=
ben, er habe von Solger viel gelesen. — Apropos,
die Anzeige von Hegel dieses Solger ist ja mehr
als kindisch. So schwach, eitel u kleinlich hätte ich
mir den Mann nicht gedacht! Das kann mich nicht ver=
letzen, wohl aber, dß man wohl sieht, wie geringe
er unseren Solger machen möchte. Auch mit Schlegel
konnt’ ich über dsen nicht sprechen. Er fing ein Paar
mal an, aber gleich so gering schätzend u bitter,
dß ich auch nicht Ein Wort erwiederte. Das ist den̄ die
beste Antwort, da er gelesen, was ich über Solger ge=
sagt. Die Herren alle werden wohl sehn, wie Sol=
ger
einmal in der Zukunft stehn wird, wen̄ die
Hegelschen Sofistereien schon vergessen sind. —
Ich umarme Sie, Geliebter, grüssen Sie die
Ihrigen u recht herzlich unsern Löbell.

Tieck.

Jena

den 6t Octbr.

1828.

Geliebter Freund,

So waren wir denn nun recht lange getrennt, auch war ich ziemlich weit von Ihnen entfernt. Heut wird Ihr Bruder Carl hier ankommen, und ich freue mich sehr darauf, ihn nach so manchem Jahre wieder zu sehn. Ich war zwei Tage in Erlangen, und habe mich gefreut, die Frau so vernünftig zu finden. Jezt, nach Jahren und nach so mancher bittren Erfahrung spricht sie ohngefähr eben so, wie wir von je an diese unselige Unternehmung ansahen. Von Halle haben wir alle nichts erwähnt, und der pietistische Zunftgeist, der die Menschen so engherzig macht, ist freilich noch immer vorherrschend. Die Hauswirthschaft in Erlangen schien gut geordnet, und Rieke war so gut, und drang darauf, daß wir die 2/1/2 Tage bei ihr wohnen mußten. Die älteste Tochter Dorothea ist gut und lieb, hat aber gar nichts gelesen, das darf, nach dem System der Neufrommen, ein junges Mädchen nicht: natürlich ist ihnen die Verlobung zu gottlos, und die Genoveva zu fromm, von der Seite, die ihnen wieder als gottlos erscheint. Sonst scheinen die Kinder sehr gut geartet, und der kleinere Junge Hans hat durch seine dreiste Anstelligkeit mein ganzes Hertz gewonnen: Das Kind ist ganz Liebe und Verstand, dabei von der einfachsten Natürlichkeit. Schade, daß das nun auch so in den engen Geist conventionellen Frommseins hineingetrieben wird, und doch einen Theil

der freien und fröhlichen Jugend verliehrt. Denn so schleppt er sich immer mit der Bibel herum, und hat, noch schlimmer, Bogazky's Schatzkästlein als Lesebuch immer bei sich. Die Ifigenia von Göthe, Rieke protestirte, mußte am Abend nicht gelesen werden, weil, wie sie sagte, Dorothe (die ihrige) kein Wort davon verstehen würde. Gewiß nur Vorwand; denn wer versteht dies Gedicht nicht? Göthe ist aber bei diesen Frommen und Altdeutschen, Republikanischen Puritanern ganz und gar proskribirt, das habe ich allenthalben gefunden, es ist, wie Verabredung. Und dann thut bei Rieke gewiß die heidnische Fabel vieles, nur das Stück zu verwerfen. Wir lasen dafür die Sommernacht, die wirklich schwer zu verstehen ist.

Sie waren nun auch in Dessau, und wären vielleicht nach Dresden gekommen, wenn ich schon zurück gekehrt wäre. Ja, Sie wären vielleicht aus treuer Freundschaft mit Ihrem Bruder hierher gekommen, wenn Sie gewußt hätten, daß ich hier wäre. Wird es nur nicht zu spät, da Sie auch schon gereiset sind? Den 15 oder 16t October denke ich wieder in Dresden zu sein: Hier, bei Frommann haben wir einige Ruhetage gehabt, in Weimar denke ich zwei oder drei Tage zu bleiben, und bin morgen bei Göthe eingeladen. In Leipzig werden mich Geschäfte noch einige Tage aufhalten. Könnte ich Sie noch sehn, so wäre dadurch dieser genußreiche, fast wunderbare Sommer auf die schönste Weise beschlossen.

Den Alten vom Berge werden Sie nun schon, so wie er denn nur fertig gemacht ist, gelesen haben. Der Ernst dieser Geschichte wird ihm nicht so viel Freude schaffen, als sich der Gelehrte erworben hat. Haben Sie schon den Prolog, eine kleine Novelle, zum Dichterleben gelesen? 5 Bde meiner Schriften sind ja nun auch heraus: Die ungeschickten Zeilen, die vor dem Ersten Bande an Sie gerichtet sind1, müssen Sie, Geliebter, ganz mit der Nachsicht eines Freundes aufnehmen. Vor meiner Abreise war ich sehr fleissig, denn die 5 nächsten Bände sind schon von mir alle durchgesehn, und hier und da verbessert.

Bei W. Schlegel habe ich in Bonn 16 Tage gewohnt, das ist mir lieb, daß wir uns wieder ganz so nahe gekommen sind, wie es nur irgend vor 25 Jahren war. Ich finde ihn eigentlich nicht verändert, ausser, was die Zeit über ihn vermacht hat. Auf den Bruder in Wien ist er sehr böse. Man kann ihm nicht Unrecht geben. Wenn er öffentlich gegen ihn auftreten wird, so wird es ganz von der Art und Weise abhangen, ob er etwas Trefliches oder Tadelnswürdiges thut. Ich habe seine Leidenschaftlichkeit zu mässigen gesucht. Aber die 15 Vorlesungen des Friedrich sind für mich ganz ungenießbar: ich habe in Bonn oft den Ansatz genommen, habe aber kein Interesse für diese sofistischen, und grossen Theils schlecht geschriebenen Anklagen des Besseren und Vertheidigungen des Schlechten, finden können.

Comments

1 Die entsprechende Widmung im Band 1 von Tiecks bei Reimer erschienenen Schriften lautet: „Dem Regierungsrathe und Professor Friedrich v. Raumer gewidmet. Geliebter Freund, In meiner Sammlung der Schauspiele des Lope finden sich einige Bände, in denen er jedes einzelne Stück einem Freunde oder Beschützer widmet. Hätte er diese Gewohnheit immer befolgt, so konnte seine Schauspielsammlung dreihundert Freunde namhaft machen. Diese Art und Weise hat mir so wohl gefallen, daß ich als Nachahmer jeden Band meiner Schriften einem Freunde oder Jemand, mit dem ich viel gelebt, der mehr oder minder Einfluß auf mich ausgeübt hat, zuschreiben will. Da fällt natürlich Ihr Name mir mit den ersten ein. Ihre treue Freundschaft, Ihr Wohlwollen, alles, was Sie mir mitgetheilt haben, zwingt mich zur Dankbarkeit. Ihnen, dem das mannichfaltige Bild der Geschichte sich so klar entwickelt hat, der Scherz und Ernst so gern verbindet, dem das Mittelalter und dessen poetische Töne nicht fremd sind, gefällt auch, wie ich weiß, diese bunte Dichtung des Octavian. Möge Ihnen dieses lebensfrohe Gemälde Freude und Heiterkeit gewähren, und Sie diese wenigen Worte mit Freundlichkeit aufnehmen, die nur an unsre vieljährige Freundschaft erinnern sollen. L. Tieck.“

Vielerlei hätte ich mit Ihnen zu sprechen. Die Reise hat meine Erfahrungen bereichert. Ich habe auch den Menzel aus Stuttgard kennen lernen. Verstockt gegen Göthe, aus Sektengeiste, wie gegen Joh. Müller, der auch bei diesem völlig die Gunst verlohren hat. O ihr Deutschen! Uebertriebene, ja sklavische Anbetung, und denn Schmach und Hohn: keine vernünftige Mitte, nirgend! Man gewöhnt sich auch daran, und ich lache jezt nur, statt zu zürnen. — Schelling soll in München einen ganz neuen philosophischen Lehr= und Lebenslauf beginnen. Nach manchen Erzählungen möchte ich fast glauben, er habe von Solger viel gelesen. — Apropos, die Anzeige von Hegel dieses Solger ist ja mehr als kindisch. So schwach, eitel und kleinlich hätte ich mir den Mann nicht gedacht! Das kann mich nicht verletzen, wohl aber, daß man wohl sieht, wie geringe er unseren Solger machen möchte. Auch mit Schlegel konnt’ ich über diesen nicht sprechen. Er fing ein Paar mal an, aber gleich so gering schätzend und bitter, daß ich auch nicht Ein Wort erwiederte. Das ist denn die beste Antwort, da er gelesen, was ich über Solger gesagt. Die Herren alle werden wohl sehn, wie Solger einmal in der Zukunft stehn wird, wenn die Hegelschen Sofistereien schon vergessen sind. — Ich umarme Sie, Geliebter, grüssen Sie die Ihrigen und recht herzlich unsern Löbell.

Tieck.

Jena

den 6t Octbr.

1828.