Briefe und Texte
aus dem intellektuellen
Berlin um 1800

Brief von Ludwig Tieck an Friedrich von Raumer (Dresden, 3. Februar 1830)

 

 

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    Tieck an Raumer, 3 Febr 30

    Mein sehr geliebter Freund,

    Indem ich die Erden umsetze, um eine zu alte Schuld abzulegen,
    befällt mich eine unendlich wehmüthige Empfindung, und über=
    haupt habe ich in diesem Winter mehr wie einmal das traurige Gefühl
    gehabt, als wenn wir uns nicht wieder sehen würden. Eine so weite
    Reise, die uns jezt trennt. Sie unternehmen Sie mit ungeschwächtem
    Muth, mit jugendlichen Kräften. Sie werden Vieles erfahren und sehn,
    wahrhaft leben, es wird eine Epoche Ihres Daseins werden. Ich kann
    also für Sie nichts fürchten. Mein Befinden ist auch erträglich, obgleich
    die zu sehr anhaltende Kälte die Gichtschmerzen geweckt hat. Wir
    sind Alle leidlich wohl, und wenn ich es möglich machen kann,
    gehe ich im Sommer wieder nach Baden. Dennoch kann ich mein
    Gefühl nicht los werden. — Auf so Vieles hätte ich Ihnen zu ant=
    worten, und weiß nicht anzufangen und nicht zu endigen. Ich bin
    nicht so fleissig gewesen, als ich mir vorgesezt hatte. Indessen ist Man=
    ches begonnen, einiges fast fertig. Für den Aristoteles habe ich
    auch noch zu danken: mit grosser Freude habe ich die Schrift wieder
    durch gelesen, und noch manches Neue gelernt. Worinn ich von Ihnen
    abweiche, die Meinung die ich noch immer nicht fahren lassen
    kann, dies zu erörtern, auch öffentlich, wird sich wohl einmal
    eine Gelegenheit finden. Mündlich haben wir uns gegenseitig
    nicht überzeugen können. — Das Ganze der Schrift ist aber vortreflich,
    auch ist sie sehr gut geschrieben. — Vorgestern träumte mir, Sie
    wären hier angekommen, um vor Ihrer Reise ein paar Tage
    hier zu verweilen. Dieser Traum war so sonderbar lebhaft,
    daß ich den ganzen Tag Sie beim Lesen und Arbeiten im Stillen
    erwartete, weil es mir ganz als Wirklichkeit war, daß ich Sie begrüßt hatte.

    So eben erhalte ich Löbells Brief an Sie, u Ihre zürnenden
    Zeilen, deren Zorn mich um so mehr kränkt, weil ich ihn reichlich
    verdient habe. Ertragen wir den Freund, — darum muß ich immer wieder
    bitten. — Aber aufrichtig, Loeb. Brief verstehe ich nicht ganz. Ich
    muß den Richelieu von neuem lesen, und genau; ich vermuthe, ich habe
    vom individuellen Styl eines Autors und von der geschichtlichen Dar=
    stellung andre Begriffe, als unser Freund. Je mehr ich über die ange=
    griffene und veränderte Einleitung denke, je öfter ich sie wieder durch
    lese, je stärker ud steifer werde ich in meiner Behauptung, Ansicht
    u Ueberzeugung. Das Neue, soviel ich mich erinnre, erscheint mir dagegen
    als Fragment, ud die Umstellung der Gedanken wie eine Entstellung.
    Die Ersten Gedanken sind, wenn man weiß, was man will, in der
    Regel die richtigsten. (Ganz gegen Lessings Behauptung; er spricht vom Drama)
    Sie können nur geändert, umgestellt, verschoben, ausgelassen hier; dort
    [wieder] eingeführt werden, wenn der Autor in einer gewissen dämmern=
    den Zerstreuung beginnt, ud in der Arbeit selbst erst den Gegensucht1 sucht,
    u ihm nachher in der Hitze des Studierens das klare Angesicht [aufleuchtet],
    u ihm Ueberzeugung ud Begeisterung weckt. Ich finde Löbells Welt=
    geschichte
    gut geschrieben: aber eben weil es Weltgeschichte ist, habe ich
    kein Urtheil, oder keinen Standpunkt, von wo ich, als Tieck, urtheilen
    könnte. Sie köennen hierüber meine Ansicht. — Weh thut mir die
    Darstellung von Schlegel. — Also einem Gelehrten lassen wir Schmutz,
    Cynismus, Taback, Faulheit, Eigensinn, Grobheit, Unwitz u Unge=
    selligkeit, wenn er sonst nur tüchtig ist, — gern hingehn: — wen̄
    aber ein ausgezeichneter Mann einmal, (aus Haß gegen die Steife
    der meisten deutschen Gelehrten) einmal den Chevalier etwas spielt,
    — da verdam̄en wir ihn! Schlegel ist auf seine Ringe um nichts eitler,
    wie ich auf manche meiner Bücher. Der Mensch ist dabei so kindlich

    Kommentare

    1 [sic]. Gemeint ist „Gegenstand“.

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    und wohlwollend, daß ich dies ud Manches gern übersehe, wenn ich es
    auch nicht loben kann. Loebell verdirbt sich dadurch den geistreichen Umgang
    u Witz dieses meines alten Freundes. — Wie heißts im Tasso: dass seiner
    Freunde schonend sich erfreun?
    — so ungefähr. Das muß mit Allen,
    Bruder, Schwester, Geliebte geschehn; sonst verfahren wir barbarisch.

    Schreiben Sie mir immer noch Einmal, Geliebtester. Gönnen Sie
    mir doch dies Almosen. Sie sam̄eln feurige Kohlen auf mein Haupt. Die
    Rathschläge unsres Schlegel werden wohl zu berücksichtigen sein. Da
    Sie erst Febr., Ende, reisen, schreibe ich Ihnen doch noch einmal, wenn gleich
    nur ebenso heilig, als heut. — Aber! — — in Freundschaft, Persönlich=
    keit für Sie zu nachgiebig. — R. könnte die Hohenst. frapiren?
    Ich glaube es Ihnen so wenig, wie irgend einem Menschen in [...]
    Sehn muß ich — u dann soll meine Freude u Bewunderung eine [...]=
    endliche sein!

    Sollten Sie nach Barcelona wirklich kom̄en, denken Sie recht
    herzlich an mich — im Clima, Gegend, — aber auch des Lope oder
    [...]des alten Spanien wegen, Sie finden gewiß Einiges, das mir
    höchst erwünscht ist, u mich in meiner Eitelkeit auf meine Bücher bestärkt,
    mir aber auch wohl im Studieren forthilft.

    Gruß, Kuß. — Alle Hausgenossen grüssen herzlichst. Adieu!

    Ihr

    L. Tieck.

    Dr. den 3tn Febr. 1830.

    Des Herrn
    Regierungsrathes u Professors von Raumer
    hochwohlgebohren
    Berlin
    [d. H.]

    Mein sehr geliebter Freund,

    Indem ich die Erden umsetze, um eine zu alte Schuld abzulegen, befällt mich eine unendlich wehmüthige Empfindung, und überhaupt habe ich in diesem Winter mehr wie einmal das traurige Gefühl gehabt, als wenn wir uns nicht wieder sehen würden. Eine so weite Reise, die uns jezt trennt. Sie unternehmen Sie mit ungeschwächtem Muth, mit jugendlichen Kräften. Sie werden Vieles erfahren und sehen, wahrhaft leben, es wird eine Epoche Ihres Daseins werden. Ich kann also für Sie nichts fürchten. Mein Befinden ist auch erträglich, obgleich die zu sehr anhaltende Kälte die Gichtschmerzen geweckt hat. Wir sind Alle leidlich wohl, und wenn ich es möglich machen kann, gehe ich im Sommer wieder nach Baden. Dennoch kann ich mein Gefühl nicht los werden. — Auf so Vieles hätte ich Ihnen zu antworten, und weiß nicht anzufangen und nicht zu endigen. Ich bin nicht so fleissig gewesen, als ich mir vorgesezt hatte. Indessen ist Manches begonnen, einiges fast fertig. Für den Aristoteles habe ich auch noch zu danken: mit grosser Freude habe ich die Schrift wieder durch gelesen, und noch manches Neue gelernt. Worinn ich von Ihnen abweiche, die Meinung die ich noch immer nicht fahren lassen kann, dies zu erörtern, auch öffentlich, wird sich wohl einmal eine Gelegenheit finden. Mündlich haben wir uns gegenseitig nicht überzeugen können. — Das Ganze der Schrift ist aber vortreflich, auch ist sie sehr gut geschrieben. — Vorgestern träumte mir, Sie wären hier angekommen, um vor Ihrer Reise ein paar Tage hier zu verweilen. Dieser Traum war so sonderbar lebhaft, daß ich den ganzen Tag Sie beim Lesen und Arbeiten im Stillen erwartete, weil es mir ganz als Wirklichkeit war, daß ich Sie begrüßt hatte.

    So eben erhalte ich Löbells Brief an Sie, und Ihre zürnenden Zeilen, deren Zorn mich um so mehr kränkt, weil ich ihn reichlich verdient habe. Ertragen wir den Freund, — darum muß ich immer wieder bitten. — Aber aufrichtig, Loebells Brief verstehe ich nicht ganz. Ich muß den Richelieu von neuem lesen, und genau; ich vermuthe, ich habe vom individuellen Styl eines Autors und von der geschichtlichen Darstellung andre Begriffe, als unser Freund. Je mehr ich über die angegriffene und veränderte Einleitung denke, je öfter ich sie wieder durch lese, je stärker und steifer werde ich in meiner Behauptung, Ansicht und Ueberzeugung. Das Neue, soviel ich mich erinnre, erscheint mir dagegen als Fragment, und die Umstellung der Gedanken wie eine Entstellung. Die Ersten Gedanken sind, wenn man weiß, was man will, in der Regel die richtigsten. (Ganz gegen Lessings Behauptung; er spricht vom Drama) Sie können nur geändert, umgestellt, verschoben, ausgelassen hier; dort [wieder] eingeführt werden, wenn der Autor in einer gewissen dämmernden Zerstreuung beginnt, und in der Arbeit selbst erst den Gegensucht1 sucht, und ihm nachher in der Hitze des Studierens das klare Angesicht [aufleuchtet], und ihm Ueberzeugung und Begeisterung weckt. Ich finde Löbells Weltgeschichte gut geschrieben: aber eben weil es Weltgeschichte ist, habe ich kein Urtheil, oder keinen Standpunkt, von wo ich, als Tieck, urtheilen könnte. Sie kennen hierüber meine Ansicht. — Weh thut mir die Darstellung von Schlegel. — Also einem Gelehrten lassen wir Schmutz, Cynismus, Taback, Faulheit, Eigensinn, Grobheit, Unwitz und Ungeselligkeit, wenn er sonst nur tüchtig ist, — gern hingehn: — wenn aber ein ausgezeichneter Mann einmal, (aus Haß gegen die Steife der meisten deutschen Gelehrten) einmal den Chevalier etwas spielt, — da verdammen wir ihn! Schlegel ist auf seine Ringe um nichts eitler, wie ich auf manche meiner Bücher. Der Mensch ist dabei so kindlich

    Kommentare

    1 [sic]. Gemeint ist „Gegenstand“.

    a und wohlwollend, daß ich dies und Manches gern übersehe, wenn ich es auch nicht loben kann. Loebell verdirbt sich dadurch den geistreichen Umgang und Witz dieses meines alten Freundes. — Wie heißts im Tasso: dass seiner Freunde schonend sich erfreun? — so ungefähr. Das muß mit Allen, Bruder, Schwester, Geliebte geschehn; sonst verfahren wir barbarisch.

    Schreiben Sie mir immer noch Einmal, Geliebtester. Gönnen Sie mir doch dies Almosen. Sie sammeln feurige Kohlen auf mein Haupt. Die Rathschläge unsres Schlegel werden wohl zu berücksichtigen sein. Da Sie erst Februar, Ende, reisen, schreibe ich Ihnen doch noch einmal, wenn gleich nur ebenso eilig, als heut. — Aber! — — in Freundschaft, Persönlichkeit für Sie zu nachgiebig. — R. könnte die Hohenstaufen frapiren? Ich glaube es Ihnen so wenig, wie irgend einem Menschen in [...] Sehn muß ich — und dann soll meine Freude und Bewunderung eine [un]endliche sein!

    Sollten Sie nach Barcelona wirklich kommen, denken Sie recht herzlich an mich — im Clima, Gegend, — aber auch des Lope oder des alten Spanien wegen, Sie finden gewiß Einiges, das mir höchst erwünscht ist, und mich in meiner Eitelkeit auf meine Bücher bestärkt, mir aber auch wohl im Studieren forthilft.

    Gruß, Kuß. — Alle Hausgenossen grüssen herzlichst. Adieu!

    Ihr

    L. Tieck.

    Dresden den 3tn Februar 1830.

    a 254

    Des Herrn
    Regierungsrathes und Professors von Raumer
    hochwohlgebohren
    Berlin
    [d. H.]