Letters and texts:
Intellectual Berlin
around 1800

Letter from Dorothea Tieck to Friedrich von Uechtritz (Dresden, 27 December 1836)

 

 

Facsimile Dipl. transcription Reading text Metadata Entities XML Facsimile Dipl. transcription Reading text Metadata Entities XML
 
 

Persons mentioned in the manuscript

Groups of persons mentioned in the manuscript

    Works mentioned in the manuscript

    Places mentioned in the manuscript

    Upper Lusatian Library of Sciences, Görlitz
    Reuse subject to prior approval by the library

    Download whole XML file powered by TEI

    Current page

     
    24


    Schon lange, mein theuerster Freund, hätte
    ich Ihren Brief beantworten sollen; ich hatte
    aber so viel zu thun, daß es mir wirklich
    nicht möglich war: Ich wollte nämlich mit dem
    Persiles1 noch vor dem Feste fertig werden2
    und mußte deshalb sehr fleißig seyn, seit
    Anfang November habe ich fast nichts gethan
    als abgeschrieben. Indem ich dabei sah, daß
    ich mir diese Mühe hätte sparen können
    und die Uebersetzung gleich in's Reine schrei=
    ben, denn es ist sehr wenig und nur Klei=
    nigkeiten darin verändert worden.3 Zuletzt
    habe ich noch die Vorrede4 und Dedication5
    übersetzt die sehr schön sind, und die der
    Dichter einige Tage vor seinem Tode6 schrieb
    auch einige Sonette7 waren noch übrig, vor
    denen ich mich sehr fürchtete, und die, wie
    ich glaube recht gut gelungen sind. Die vori=
    ge Woche habe ich nun das Manuscript nach
    Leipzig8 geschickt.

    Bei uns geht es leidlich, und mit meiner
    Mutter, obgleich sie öfter leidend ist, doch
    besser als den ganzen Sommer. Vater
    hat mitunter Schmerzen im Nacken, und

    Comments

    1 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 203) steht „Persilas“.

    2 Die anonyme Übersetzung von Cervantes' Leiden des Persiles und der Sigismunda erschien 1837 in 2 Bänden, mit einem Vorwort von Ludwig Tieck begleitet.

    3 Vermutlich hatte Tieck die Übersetzung seiner Tochter durchgesehen.

    4 Die Leiden des Persiles und der Sigismunda, S. XXI–XXIV.

    5 Die Leiden des Persiles und der Sigismunda, S. XIX–XX.

    6 Miguel de Cervantes starb am 23. April 1616.

    7 Jeweils ein Sonett findet sich im 1. Buch, 9. Kapitel; 1. Buch, 18. Kapitel; 2. Buch, 3. Kapitel und 4. Buch, 3. Kapitel der Leiden des Persiles und der Sigismunda.

    8 Zum Verleger F. A. Brockhaus.

    kann den Hals gar nicht drehen.9 Ich fürchte
    das wird so bleiben. Es kann wohl nicht an=
    ders seyn als daß im Alter Leiden kom̄en
    bei den Eltern diese Periode kommen zu
    sehen ist aber ein großer Schmerz, und es
    gehört Zeit dazu, um sich in dies Unabwend=
    bare zu ergeben. Es ist als ginge mit ihrem
    das eigne Leben seinem Ende entgegen,
    und wäre es doch so! Aber immer fort und
    fort zu leben.10 Es muß eine Kraft dazu
    gehören, die ich nicht habe und mir nicht den=
    ken kann; die mir aber Gott gewiß nicht
    versagen wird wenn ich sie bedarf, ich wünsche
    mir ja nichts anderes als völlige Ergebung
    in seinen Willen. Wie sind jetzt unsre Lebens=
    wege verschieden:11 Sie denken mit Hoffnung
    und Freude an die Zukunft, und ich gebe mir
    immer Mühe gar nicht daran zu denken,
    und alles in die Hände Gottes zu legen.
    Möchten Sie doch so glücklich werden, als ich es
    wünsche und täglich darum bete!12

    Endlich, nach langer Erwartung sind nun
    auch die Düsseldorfer Bilder13 hier angekom=
    men, und ich weiß wirklich nicht recht, wie ich
    es anfangen soll Ihnen etwas darüber zu
    sagen: Die Erscheinung ist so groß und mäch=
    tig, so ganz überraschend und unerwar=
    tet, trotz dem Guten was wohl schon da ist

    Comments

    9 Vermutlich auch infolge des Unfalls auf der Fahrt nach Baden-Baden im Sommer 1836; vgl. Brieffragment vom Herbst 1836, S. 1 (Bl. 1 recto).

    10 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 203) steht ein Ausrufezeichen anstelle des Punktes.

    11 Nach Uechtritz' Verlobung mit Marie Balan Ende Oktober 1836.

    12 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 204) steht ein Punkt anstelle des Ausrufezeichens.

    13 Zur Ausstellung von 20 Gemälden der „Düsseldorfer Malerschule“ im Dezember 1836 in Dresden, die für großes Aufsehen gesorgt hat, vgl. Carus: Bemerkungen über die Bilder der Düsseldorfer Schule, ausgestellt in Dresden im Dezember 1836, Nr. 28–30, S. 109–111, S. 113–115, S. 117–120. Die Ausstellung befand sich im Canaletto-Saal im Palais auf der Brühlschen Terrasse.

    daß man gar keinen Uebergang findet von
    allem bisher gesehenen zu dieser Höhe der
    Kunst. Wie ist dieser Hussitenprediger14 gemalt
    man glaubt den Blick, den Schritt, die Be=
    wegung der Arme zu sehen, und wird diese
    Gestalt nie vergessen, als hätte man den
    Menschen persönlich gekannt. Fast eben so
    alle andern Köpfe, alles so frei, so groß=
    artig, wie durch wenige Mittel erreicht,
    die Luft sieht man zwischen den Gestalten
    so hebt sich jedes vom andern ab. Eben so
    die Baumstämme, die Stoffe, alle Neben=
    sachen, man möchte den Riemen an dem
    Schilde fassen, der im Vordergrunde liegt,
    und doch hat alle diese genaue Ausfüh=
    rung so gar nichts Kleinliches und zieht die
    Aufmerksamkeit nicht mehr als nöthig ist
    auf sich. Kurz, es läßt sich gewiß nie zu
    viel von diesem Bilde sagen. Der Heinrich
    in Canossa15 von Begas hängt daneben und
    der Abstand in jeder Hinsicht ist fast zu
    groß, man bekom̄t ein gewisses Mitleid
    mit dem andern Bilde.

    Und doch, — was werden Sie sagen, wen̄
    ich Ihnen gestehen muß daß mir für mein
    Gefühl der Jeremias16 noch unendlich viel höher
    steht, und daß ich nicht begreifen kann, wie

    Comments

    14 Es handelt sich um das 1836 entstandene Gemälde „Die Hussitenpredigt“ von Carl Friedrich Lessing. Es befindet sich heute in der Alten Nationalgalerie, Berlin.

    15 Das 1836 entstandene Gemälde „Heinrich IV. in Canossa“ von Carl Joseph Begas ist heute verschollen.

    16 Eduard Bendemanns 1835/1836 entstandenes Monumentalgemälde „Jeremias auf den Trümmern Jerusalems“ befand sich bis zu seiner Zerstörung 1945 im Leineschloss Hannover. Das Jüdische Museum Berlin verfügt über eine zeitgenössische Kopie. Vgl. Online-Katalog des Jüdischen Museums Berlin, Inv.-Nr. 2000/64/0 (letzter Zugriff: 23. November 2014).

    man nicht von diesem Bilde schon viel mehr
    hat sprechen hören. Hier vergißt man ganz
    darüber nachzudenken wie es gemalt ist,
    die Einzelnheiten zu bewundern. Wie eine
    mächtige Offenbarung steht es da. Man glaubt
    die ganze Weltgeschichte zu erblicken, alles Gro=
    ße was war und untergegangen ist. Alle
    Schmerzen die die Seele bewegen, und doch ist
    dies Gefühl so wohlthuend, beruhigend erhe=
    bend. In dem Angesicht des Propheten lesen
    wir die Trauer über das erwählte Volk,
    das sein Heil nicht erkannte, und ein Opfer
    der eignen Verblendung fiel. Ja, die Hoffnung
    auf den kommenden Erlöser, den dies Volk
    zu seinem eignen Verderben nicht erkennt und
    aus den Thoren der wieder erbauten Stadt
    zum Tode führt. Doch warum versuche ich
    Ihnen meine Rührung, meine Bewundrung
    alle die Empfindungen zu schildern, die ich vor
    diesem Bilde hatte, und die ich mir selbst kaum
    klar zu machen weiß?17

    Ich war schon öfter mehrere Stunden dort
    und gestern ist mein Vater endlich auch da
    gewesen. Sie können denken wie gespannt
    ich darauf war was er sagen würde. Im Gan=
    zen scheint er meine Empfindung zu theilen,
    weiß sich aber besser auszudrücken, und ich
    habe Sie, liebster Freund, in diesen Tagen
    recht oft her gewünscht, um diese Freude mit

    Comments

    17 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 205) steht ein Punkt anstelle des Fragezeichens.

    Ihnen zu erleben. Sagen Sie den Künstlern
    unbekannter Weise von uns alles was Sie
    aus meinen schwachen Ausdrücken in eine
    bessere Sprache übersetzen können.

    Einige recht schöne Landschaften sind
    noch mit gekommen, vorzüglich eine Winter=
    landschaft,18 dann die Burg Elz,19 auch eine
    unbedeutende Gegend, einige Bauerhäu=
    ser an einem Strom.20 Doch es ist wirklich
    recht schwer neben Jeremias noch auf etwas
    anderes zu achten. Ich kann dies Bild nur
    mit dem Dante, und mit wenigen großen
    Eindrücken meines Lebens vergleichen, und
    werde es immer für ein Glück meines Lebens
    achten es gesehen zu haben.

    Seit ich mit meiner Uebersetzung fertig bin
    habe ich wieder sehr viel im Dante gelesen,
    und mir kleine Auszüge aus den historischen
    Noten gemacht. Dante ist ein Buch das ich
    schon unzählige mal gelesen habe und nie
    aufhöre zu lesen, ich werde nie damit fer=
    tig und es gehört wirklich ganz zu meiner
    Existenz.

    Ich weiß Ihnen übrigens recht wenig von
    hier zu erzählen. Unser Leben geht seinen
    ruhigen Gang fort, Vater liest auch den
    Abend öfter vor, aber auch oft unbedeu=

    Comments

    18 Welche Winterlandschaft von Barend Cornelius Koekkoek gemeint ist, kann nicht mit Sicherheit rekonstruiert werden. Möglicherweise handelt es sich um das Gemälde „Eisvergnügen in der Abendsonne“ (1835), das sich in einer niederländischen Privatsammlung befindet.

    19 Der Verbleib des 1836 entstandenen Gemäldes „Die Burg Eltz“ von Eduard Wilhelm Pose ist heute unbekannt.

    20 Hierbei könnte es sich um ein Gemälde von Caspar Scheuren handeln.

    tende Sachen. Auch im Theater ist nicht viel
    vorgefallen. Porth hat den Lear gespielt und
    sehr gefallen, obgleich ich ihn ziemlich schlecht
    fand, ich habe mich aber herzlich über den
    Erfolg gefreut, der ihn sehr glücklich machte.

    Ich denke mir eigentlich, mein theuerster
    Freund, Sie sind jetzt zu glücklich, als daß
    alles dies Interesse für Sie haben kann.
    Ich kann mir Sie in dem neuen Zustand noch
    gar nicht denken und bin sehr gespannt
    darauf Sie im Frühling wieder zu sehen.
    Ich hatte mir eigentlich vorgenommen Ihnen
    noch manches mitzutheilen, habe es aber
    wirklich21 über den Jeremias vergessen,
    ein solcher Eindruck macht wirklich zerstreut
    und auf einige Zeit verdrängt es22 man=
    ches andre was uns sonst beschäftigte.
    23Deshalb will ich heut mit den herzlichsten
    Grüßen von allen Meinigen schließen,

    und Sie nur noch bitten mir bald einmal
    wieder zu schreiben.
    Ihre Dorothea.

    Comments

    21 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 206) fehlt „wirklich“.

    22 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 206) steht „er“.

    23 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 206) folgt eine markierte Auslassung bis zum Ende des Briefs.

    Schon lange, mein theuerster Freund, hätte ich Ihren Brief beantworten sollen; ich hatte aber so viel zu thun, daß es mir wirklich nicht möglich war: Ich wollte nämlich mit dem Persiles1 noch vor dem Feste fertig werden2 und mußte deshalb sehr fleißig seyn, seit Anfang November habe ich fast nichts gethan als abgeschrieben. Indem ich dabei sah, daß ich mir diese Mühe hätte sparen können und die Uebersetzung gleich in's Reine schreiben, denn es ist sehr wenig und nur Kleinigkeiten darin verändert worden.3 Zuletzt habe ich noch die Vorrede4 und Dedication5 übersetzt die sehr schön sind, und die der Dichter einige Tage vor seinem Tode6 schrieb auch einige Sonette7 waren noch übrig, vor denen ich mich sehr fürchtete, und die, wie ich glaube recht gut gelungen sind. Die vorige Woche habe ich nun das Manuscript nach Leipzig8 geschickt.

    Bei uns geht es leidlich, und mit meiner Mutter, obgleich sie öfter leidend ist, doch besser als den ganzen Sommer. Vater hat mitunter Schmerzen im Nacken, und

    Comments

    1 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 203) steht „Persilas“.

    2 Die anonyme Übersetzung von Cervantes' Leiden des Persiles und der Sigismunda erschien 1837 in 2 Bänden, mit einem Vorwort von Ludwig Tieck begleitet.

    3 Vermutlich hatte Tieck die Übersetzung seiner Tochter durchgesehen.

    4 Die Leiden des Persiles und der Sigismunda, S. XXI–XXIV.

    5 Die Leiden des Persiles und der Sigismunda, S. XIX–XX.

    6 Miguel de Cervantes starb am 23. April 1616.

    7 Jeweils ein Sonett findet sich im 1. Buch, 9. Kapitel; 1. Buch, 18. Kapitel; 2. Buch, 3. Kapitel und 4. Buch, 3. Kapitel der Leiden des Persiles und der Sigismunda.

    8 Zum Verleger F. A. Brockhaus.

    kann den Hals gar nicht drehen.9 Ich fürchte das wird so bleiben. Es kann wohl nicht anders seyn als daß im Alter Leiden kommen bei den Eltern diese Periode kommen zu sehen ist aber ein großer Schmerz, und es gehört Zeit dazu, um sich in dies Unabwendbare zu ergeben. Es ist als ginge mit ihrem das eigne Leben seinem Ende entgegen, und wäre es doch so! Aber immer fort und fort zu leben.10 Es muß eine Kraft dazu gehören, die ich nicht habe und mir nicht denken kann; die mir aber Gott gewiß nicht versagen wird wenn ich sie bedarf, ich wünsche mir ja nichts anderes als völlige Ergebung in seinen Willen. Wie sind jetzt unsre Lebenswege verschieden:11 Sie denken mit Hoffnung und Freude an die Zukunft, und ich gebe mir immer Mühe gar nicht daran zu denken, und alles in die Hände Gottes zu legen. Möchten Sie doch so glücklich werden, als ich es wünsche und täglich darum bete!12

    Endlich, nach langer Erwartung sind nun auch die Düsseldorfer Bilder13 hier angekommen, und ich weiß wirklich nicht recht, wie ich es anfangen soll Ihnen etwas darüber zu sagen: Die Erscheinung ist so groß und mächtig, so ganz überraschend und unerwartet, trotz dem Guten was wohl schon da ist

    Comments

    9 Vermutlich auch infolge des Unfalls auf der Fahrt nach Baden-Baden im Sommer 1836; vgl. Brieffragment vom Herbst 1836, S. 1 (Bl. 1 recto).

    10 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 203) steht ein Ausrufezeichen anstelle des Punktes.

    11 Nach Uechtritz' Verlobung mit Marie Balan Ende Oktober 1836.

    12 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 204) steht ein Punkt anstelle des Ausrufezeichens.

    13 Zur Ausstellung von 20 Gemälden der „Düsseldorfer Malerschule“ im Dezember 1836 in Dresden, die für großes Aufsehen gesorgt hat, vgl. Carus: Bemerkungen über die Bilder der Düsseldorfer Schule, ausgestellt in Dresden im Dezember 1836, Nr. 28–30, S. 109–111, S. 113–115, S. 117–120. Die Ausstellung befand sich im Canaletto-Saal im Palais auf der Brühlschen Terrasse.

    daß man gar keinen Uebergang findet von allem bisher gesehenen zu dieser Höhe der Kunst. Wie ist dieser Hussitenprediger14 gemalt man glaubt den Blick, den Schritt, die Bewegung der Arme zu sehen, und wird diese Gestalt nie vergessen, als hätte man den Menschen persönlich gekannt. Fast eben so alle andern Köpfe, alles so frei, so großartig, wie durch wenige Mittel erreicht, die Luft sieht man zwischen den Gestalten so hebt sich jedes vom andern ab. Eben so die Baumstämme, die Stoffe, alle Nebensachen, man möchte den Riemen an dem Schilde fassen, der im Vordergrunde liegt, und doch hat alle diese genaue Ausführung so gar nichts Kleinliches und zieht die Aufmerksamkeit nicht mehr als nöthig ist auf sich. Kurz, es läßt sich gewiß nie zu viel von diesem Bilde sagen. Der Heinrich in Canossa15 von Begas hängt daneben und der Abstand in jeder Hinsicht ist fast zu groß, man bekommt ein gewisses Mitleid mit dem andern Bilde.

    Und doch, — was werden Sie sagen, wenn ich Ihnen gestehen muß daß mir für mein Gefühl der Jeremias16 noch unendlich viel höher steht, und daß ich nicht begreifen kann, wie

    Comments

    14 Es handelt sich um das 1836 entstandene Gemälde „Die Hussitenpredigt“ von Carl Friedrich Lessing. Es befindet sich heute in der Alten Nationalgalerie, Berlin.

    15 Das 1836 entstandene Gemälde „Heinrich IV. in Canossa“ von Carl Joseph Begas ist heute verschollen.

    16 Eduard Bendemanns 1835/1836 entstandenes Monumentalgemälde „Jeremias auf den Trümmern Jerusalems“ befand sich bis zu seiner Zerstörung 1945 im Leineschloss Hannover. Das Jüdische Museum Berlin verfügt über eine zeitgenössische Kopie. Vgl. Online-Katalog des Jüdischen Museums Berlin, Inv.-Nr. 2000/64/0 (letzter Zugriff: 23. November 2014).

    man nicht von diesem Bilde schon viel mehr hat sprechen hören. Hier vergißt man ganz darüber nachzudenken wie es gemalt ist, die Einzelnheiten zu bewundern. Wie eine mächtige Offenbarung steht es da. Man glaubt die ganze Weltgeschichte zu erblicken, alles Große was war und untergegangen ist. Alle Schmerzen die die Seele bewegen, und doch ist dies Gefühl so wohlthuend, beruhigend erhebend. In dem Angesicht des Propheten lesen wir die Trauer über das erwählte Volk, das sein Heil nicht erkannte, und ein Opfer der eignen Verblendung fiel. Ja, die Hoffnung auf den kommenden Erlöser, den dies Volk zu seinem eignen Verderben nicht erkennt und aus den Thoren der wieder erbauten Stadt zum Tode führt. Doch warum versuche ich Ihnen meine Rührung, meine Bewundrung alle die Empfindungen zu schildern, die ich vor diesem Bilde hatte, und die ich mir selbst kaum klar zu machen weiß?17

    Ich war schon öfter mehrere Stunden dort und gestern ist mein Vater endlich auch da gewesen. Sie können denken wie gespannt ich darauf war was er sagen würde. Im Ganzen scheint er meine Empfindung zu theilen, weiß sich aber besser auszudrücken, und ich habe Sie, liebster Freund, in diesen Tagen recht oft her gewünscht, um diese Freude mit

    Comments

    17 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 205) steht ein Punkt anstelle des Fragezeichens.

    Ihnen zu erleben. Sagen Sie den Künstlern unbekannter Weise von uns alles was Sie aus meinen schwachen Ausdrücken in eine bessere Sprache übersetzen können.

    Einige recht schöne Landschaften sind noch mit gekommen, vorzüglich eine Winterlandschaft,18 dann die Burg Elz,19 auch eine unbedeutende Gegend, einige Bauerhäuser an einem Strom.20 Doch es ist wirklich recht schwer neben Jeremias noch auf etwas anderes zu achten. Ich kann dies Bild nur mit dem Dante, und mit wenigen großen Eindrücken meines Lebens vergleichen, und werde es immer für ein Glück meines Lebens achten es gesehen zu haben.

    Seit ich mit meiner Uebersetzung fertig bin habe ich wieder sehr viel im Dante gelesen, und mir kleine Auszüge aus den historischen Noten gemacht. Dante ist ein Buch das ich schon unzählige mal gelesen habe und nie aufhöre zu lesen, ich werde nie damit fertig und es gehört wirklich ganz zu meiner Existenz.

    Ich weiß Ihnen übrigens recht wenig von hier zu erzählen. Unser Leben geht seinen ruhigen Gang fort, Vater liest auch den Abend öfter vor, aber auch oft unbedeu=

    Comments

    18 Welche Winterlandschaft von Barend Cornelius Koekkoek gemeint ist, kann nicht mit Sicherheit rekonstruiert werden. Möglicherweise handelt es sich um das Gemälde „Eisvergnügen in der Abendsonne“ (1835), das sich in einer niederländischen Privatsammlung befindet.

    19 Der Verbleib des 1836 entstandenen Gemäldes „Die Burg Eltz“ von Eduard Wilhelm Pose ist heute unbekannt.

    20 Hierbei könnte es sich um ein Gemälde von Caspar Scheuren handeln.

    tende Sachen. Auch im Theater ist nicht viel vorgefallen. Porth hat den Lear gespielt und sehr gefallen, obgleich ich ihn ziemlich schlecht fand, ich habe mich aber herzlich über den Erfolg gefreut, der ihn sehr glücklich machte.

    Ich denke mir eigentlich, mein theuerster Freund, Sie sind jetzt zu glücklich, als daß alles dies Interesse für Sie haben kann. Ich kann mir Sie in dem neuen Zustand noch gar nicht denken und bin sehr gespannt darauf Sie im Frühling wieder zu sehen. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen Ihnen noch manches mitzutheilen, habe es aber wirklich21 über den Jeremias vergessen, ein solcher Eindruck macht wirklich zerstreut und auf einige Zeit verdrängt es22 manches andre was uns sonst beschäftigte. 23Deshalb will ich heut mit den herzlichsten Grüßen von allen Meinigen schließen, und Sie nur noch bitten mir bald einmal wieder zu schreiben. Ihre Dorothea.

    Comments

    21 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 206) fehlt „wirklich“.

    22 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 206) steht „er“.

    23 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 206) folgt eine markierte Auslassung bis zum Ende des Briefs.