
Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz
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Dresden den 6 F Merz.
Ihr Brief, mein theuerster Freund, hat mir
sehr wohl gethan. Ich hätte Ihnen gern schon
vorher geschrieben, ich war aber von so vielen
Seiten bedrängt und hatte so viele Briefe
an die Verwandten zu schreiben, daß es
mir nicht möglich war.1 Jetzt habe ich Zeit zu
Allem, aber Muth und Kraft fehlt, auch für
das geringste Geschäft. Es ist mir, als wäre
mir alles genommen wodurch ich lebte, als
müsse ich auf eine andre Weise als durch das
Einathmen der Luft, zu leben lernen.
Ich fühle mich mit einem Male so völlig fremd
in der Welt, als wäre meines Bleibens gar
nicht länger, ich weiß nicht von welcher Sei=
te ich das Leben wieder ergreifen soll.
Was thut nicht die süße Gewohnheit eines
ganzen, langen Lebens? und selten giebt
es wohl eine Verbindung zweier Seelen wie
die unsrige war, sie war mir Mutter, Freun=
dinn, Alles, und wenn ich mit ihr war fühlte
ich mich so völlig befriedigt, und bedurfte [...]
gar nichts weiter. Es war zu schön für die=
se Erde um länger zu währen, und ich muß
wohl noch durch viele Schmerzen geläutert wer=
den, um das Glück wieder mit ihr zu seyn
in einem Leben wo es keine Tren̄ung
giebt, zu erringen. Sie können wohl mit
Recht sagen daß Sie eine Freundinn ver=
1 Nach dem Tod Amalia Tiecks am 11. Februar 1837.
loren haben, denn für Sie hatte sie eine
wahre, zärtliche Freundschaft, wie für weni=
ge Menschen, und Ihr Besuch2 war eine der
letzten Freuden ihres3 Lebens, wie oft spra=
chen wir noch von Ihnen seit Ihrer Verlobung.4
Auch in der letzten Krankheit hatte sie noch
dieselbe liebevolle Theilnahme für Alles, aber
ihre Gedanken und ihre Sehnsucht war nur
nach dem Himmel gerichtet, täglich sprach
sie uns von ihrem unbeschreiblichen Verlan=
gen nach dem Tode, es war als wäre ihre
Seele so geläutert und bereit, daß sie
in dieser Verbannung nicht länger ausdauern
konnte. Und dennoch traf dieser Schlag
uns so unvorbereitet, und wir hofften
gerade in den letzten Tagen so bestim̄t
auf Besserung. Eine so lange dauernde5
Krankheit, wo es schon so oft schlimm
war und wieder besser ward giebt eine
gewisse Sicherheit. Wie oft habe ich ich mir
gesagt daß es endlich so kommen müsse,
und doch ist es, wenn es geschieht so ganz
anders als man es sich dachte, und so un=
beschreiblich schwer zu ertragen. Ich möchte
Ihnen noch so vieles von ihr und den letzten
Tagen ihres Lebens erzählen; das Schreiben
greift mich aber so sehr an, ich kann es nicht
lange aushalten.
Sie und ich wir haben uns nun seit lange
alles Erlebte und so manche Empfindung
mitgetheilt. Während Sie nun das höchste Glück
des Lebens errungen fühle ich den tiefsten
2 Uechtritz war Anfang September 1836 in Dresden zu Besuch gewesen.
3 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 207) steht „Ihres“.
4 Uechtritz hatte sich Ende Oktober 1836 mit Marie Balan verlobt.
5 Amalia Tieck hatte seit Anfang 1834 an Unterleibsbeschwerden und Wasseransammlung in den Beinen gelitten.
Schmerz, den ich je empfinden kann. Und doch
berühren sich beide Zustände und sind nicht
so verschieden wie man denken sollte.
Wie nüchtern wäre das Leben ohne Schmerz!6
und auch im Gefühl der höchsten Wonne, und
gerade wenn wir das erreichten wonach
unsre Sehnsucht schmachtete, fällt gewiß ein
Schatten in unser Herz und wir fühlen die ge=
ahndete Befriedigung nicht. Verzeihen Sie,
mein theuerster Freund, ich sollte Ihnen dies
vielleicht nicht sagen, aber ich kann gegen Sie
nicht anders als ganz aus der Seele sprechen
und ich bin schon seit vielen Jahren so von
dem Gefühl einer unendlichen Sehnsucht
durchdrungen, die, wie ich mir denke in jeder
Seele lebt, und hier auf Erden nie ihr
Genüge finden kann. Hätte ich mich dieser
Sehnsucht nur erst ganz hingegeben, so wä=
re auch mein Schmerz ruhig und geläutert
Hätte der Schmerz über jedes andre Gefühl
gesiegt, so würde ich nur seine Süßigkeit
empfinden. Ich fühle mich jetzt so fremd
auf der Erde, und der Gedanke ängstigt
mich am meisten, es könnte mir je wieder
heimischer werden. Weshalb sollen wir nicht
dem Tode näher stehen als dem Leben?
es ist doch im Grunde so viel natürlicher.
Vater hat sich in jeder Hinsicht ganz herr=
lich benommen, er theilte alle unsre Empfin=
dungen und war so tief erschüttert wie ich
ihn nie in meinem Leben gesehen habe. Er
sprach in den ersten Tagen sehr viel mit uns
6 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 207) steht ein Fragezeichen anstelle des Ausrufezeichens.
richtete alles so ein wie wir es wünschten
und die Gräfinn blieb meist in ihrer Stube.
Ich muß den Vater oft mit Wehmuth betrachten
seit dem Sturz7 und der Krankheit ist er doch
verändert, auch von diesem Schlage wird er sich
nicht ganz erholen, ich glaube nicht daß er
noch lange bei uns bleibt. Mir ist als müsse
nun nach und nach alles von mir scheiden
was mich noch an die Erde bindet, oder als
wäre für mich die Stunde des Scheidens na=
he. Ich habe ein dunkles Gefühl als stän=
de8 mir noch etwas Großes bevor, als wür=
de es nicht so bleiben wie es jetzt ist.
In der ersten Woche war uns das wahre
ächte Mitgefühl das wir bei den Freun=
den hier gefunden eine Erleichterung,
namentlich dem alten Sternberg werde
ich es nie vergessen, und er kann für mich
nun so viele Novellen9 schreiben als er Lust
hat, sein schönes Gemüth habe ich in dieser
Zeit schätzen lernen. Das Leben kommt nun
nach und nach wieder in seine alte Ordnung,
aber das ist gerade das Schwerste, da der
Mittelpunkt fehlt, das wofür ich lebte und
was namentlich in den drei letzten Jahren
der Inhalt meiner Sorge, aller meiner
Gedanken war. Ich sitze immer mit Ag=
nes in der Mutter ihrer kleinen Stube, be=
schäftigen können wir uns fast noch10 gar
nicht, selbst nicht mit Handarbeiten, neu=
lich habe ich ihr die Hymnen an die Nacht von
Novalis vorgelesen. Für mich lese ich nun11
die Schriften der heiligen Theresia.
7 Auf der Fahrt nach Baden-Baden im Sommer 1836 erlitt Tieck einen schweren Unfall, bei dem er sich Kopf- und Nackenverletzungen zuzog. Vgl. Brieffragment vom Herbst 1836, S. 1 (Bl. 1 recto).
8 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 208) steht „stünde“.
9 Von Wilhelm von Ungern-Sternberg war 1831 bspw. die Tieck gewidmete Novelle Bühne, Kunst und Liebe erschienen.
10 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 208) fehlt „noch“.
11 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 209) steht „nur“.
Abends kommen immer einige der näheren
Bekannten, gelesen hat Vater noch nicht
wieder. Mir werden die geselligen Stun=
den am aller schwersten, weil ich dann
meinen Gedanken nicht so ungestört nach
hängen kann, meines Vaters wegen
zwinge ich mich auch an manchen Gesprä=
chen Theil zu nehmen, ich fühle ganz was
ich ihm schuldig bin und so gern seyn möch=
te. 12Ich werde ihm seine Güte ewig danken
die er uns jetzt auch dadurch bewies, daß
er nie von der Gräfinn sprach, uns nicht
an sie verwies, oder von ihr sprach, was
ich so sehr gefürchtet hatte. Sie berührt
alles wenig und wir gehen stumm neben=
einander her. In einigen Wochen erwarten
wir Raumer, was mir für Vater sehr
lieb ist.
Es ist mir ein eignes Gefühl, daß die
Mutter nicht länger bei uns bleiben wollte
daß auch die Sorge um uns sie nicht mehr be=
rührte, sie sah alles Irdische schon in einem
höheren Lichte, sie liebte mich doch so unbeschreib=
lich und wußte welche Schmerzen mich nach ihrem
Scheiden erwarteten. Meine Gedanken finden
seitdem keinen Ruhepunkt mehr auf Erden.
Sie können sich das wunderbare Gefühl nicht
denken, was uns ganz durch dringt, wenn
wir die Seele die wir auf der Welt am
meisten geliebt haben, jenseit wissen.
Wie plötzlich jedes Grauen vor dem Tode ver=
schwindet, vor allem was ihn begleitet, und
12 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 209) folgt eine unmarkierte Auslassung bis zum Ende des Absatzes.
was uns doch sonst oft durchschauerte, auch
bei der zuversichtlichsten Hoffnung auf ein
ewiges, herrliches Leben. Ich glaube ich könnte
jetzt mit der größten Ruhe mein eignes
Grab graben sehen, der dunkle Weg ist er=
leuchtet und alles Grauen, alle Dunkelheit
hat sich in das Leben geflüchtet, das ist sehr
schwer zu überwinden, der Gedanke an
die Länge der Zeit, die immer wieder=
kehrenden Tage, und nun vollends die
wiederkehrenden Jahreszeiten und lan=
gen Jahre, und der Gedanke den Verlust
zu verschmerzen, ihn einst weniger zu
empfinden ist mir der aller schrecklichste
und ich glaube was man Milderung durch
die Zeit nennt, ist nur, daß man sich
an den Schmerz, der uns anfangs et=
was Fremdes ist, gewöhnt, und er uns
Bedürfniß wird. So viel wie möglich suche ich
mich des Gedankens an die Zukunft zu ent=
schlagen, sollen wir doch nicht wie die Heiden
ängstlich um Speise und Kleidung sorgen,
und der welcher verhieß uns daran nicht
Mangel leiden zu lassen wenn wir das
Reich Gottes suchen, weiß ja, daß wir
Kraft und Licht noch weit mehr bedürfen
als alles dessen was den Leib erhält.
Könnte ich mich jetzt nur alles äußeren ent=
schlagen und mich, wonach ich mich schon oft so
unbeschreiblich gesehnt habe, in die tiefste
Einsamkeit zurück ziehen, ich würde bald
den Frieden finden, und doch muß ich es als
ein unbeschreibliches Glück erkennen, daß ich
noch für andre leben kann, noch Pflichten
für Vater und Schwester zu erfüllen habe.
Aber es ist eine seltsame Erfahrung die ich
jetzt mache, daß uns eigentlich der erste
schwere Schlag den wir erleben Alles raubt
weil uns dann erst die Unsicherheit jedes
Besitzes klar wird, und auch weil das Leben
geknickt ist und das Gefühl fast wie erstor=
ben.
Jetzt, wo ich fast für nichts Gedanken habe,
dachte ich doch oft an den Jeremias13 und
hatte eine wahre Sehnsucht das Bild noch
einmal zu sehen. Ich sah es noch mit der
Mutter14 und sie freute sich so sehr daran,
auch würde sich mein Schmerz in dem Anblick er=
hoben fühlen, wie durch die schönsten Sprüche
der heiligen Schrift.
Ich schreibe Ihnen so viel, mein theuerster
Freund, und Alles durcheinander, Sie werden
kaum daraus klug werden. Wären Sie
hier, ein Blick könnte Ihnen mehr sagen
als alle Briefe. Wir werden uns ja bald
wieder sehen und beide in sehr veränder=
tem Zustande. Wenn Sie Zeit und Stim̄ung
haben schreiben Sie mir doch noch einmal.
Das gewöhnliche Treiben der Menschen trifft
mich schmerzlich, aber jedes Wort der Liebe
und Theilnahme wirkt wie lindernder Bal=
sam auf mein verwundetes Herz, und ich
nehme es mit der größten Dankbarkeit
auf. Gott sey mit Ihnen, mein liebster
Freund, und bewahre Sie noch lange vor
Schmerzen wie ich sie jetzt empfinde.
15Ihre Dorothea T.
13 Zu Eduard Bendemanns Gemälde „Jeremias auf den Trümmern Jerusalems“ vgl. den Brief vom 27. Dezember 1836, S. 3 f. (Bl. 2 recto f.).
14 Anlässlich der Ausstellung von 20 Gemälden der „Düsseldorfer Malerschule“ in Dresden im Dezember 1836.
15 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 210) folgt eine unmarkierte Auslassung der Unterschrift.
Dresden den 6 Merz. Ihr Brief, mein theuerster Freund, hat mir sehr wohl gethan. Ich hätte Ihnen gern schon vorher geschrieben, ich war aber von so vielen Seiten bedrängt und hatte so viele Briefe an die Verwandten zu schreiben, daß es mir nicht möglich war.1 Jetzt habe ich Zeit zu Allem, aber Muth und Kraft fehlt, auch für das geringste Geschäft. Es ist mir, als wäre mir alles genommen wodurch ich lebte, als müsse ich auf eine andre Weise als durch das Einathmen der Luft, zu leben lernen. Ich fühle mich mit einem Male so völlig fremd in der Welt, als wäre meines Bleibens gar nicht länger, ich weiß nicht von welcher Seite ich das Leben wieder ergreifen soll. Was thut nicht die süße Gewohnheit eines ganzen, langen Lebens? und selten giebt es wohl eine Verbindung zweier Seelen wie die unsrige war, sie war mir Mutter, Freundinn, Alles, und wenn ich mit ihr war fühlte ich mich so völlig befriedigt, und bedurfte gar nichts weiter. Es war zu schön für diese Erde um länger zu währen, und ich muß wohl noch durch viele Schmerzen geläutert werden, um das Glück wieder mit ihr zu seyn in einem Leben wo es keine Trennung giebt, zu erringen. Sie können wohl mit Recht sagen daß Sie eine Freundinn ver=
1 Nach dem Tod Amalia Tiecks am 11. Februar 1837.
loren haben, denn für Sie hatte sie eine wahre, zärtliche Freundschaft, wie für wenige Menschen, und Ihr Besuch2 war eine der letzten Freuden ihres3 Lebens, wie oft sprachen wir noch von Ihnen seit Ihrer Verlobung.4 Auch in der letzten Krankheit hatte sie noch dieselbe liebevolle Theilnahme für Alles, aber ihre Gedanken und ihre Sehnsucht war nur nach dem Himmel gerichtet, täglich sprach sie uns von ihrem unbeschreiblichen Verlangen nach dem Tode, es war als wäre ihre Seele so geläutert und bereit, daß sie in dieser Verbannung nicht länger ausdauern konnte. Und dennoch traf dieser Schlag uns so unvorbereitet, und wir hofften gerade in den letzten Tagen so bestimmt auf Besserung. Eine so lange dauernde5 Krankheit, wo es schon so oft schlimm war und wieder besser ward giebt eine gewisse Sicherheit. Wie oft habe ich ich mir gesagt daß es endlich so kommen müsse, und doch ist es, wenn es geschieht so ganz anders als man es sich dachte, und so unbeschreiblich schwer zu ertragen. Ich möchte Ihnen noch so vieles von ihr und den letzten Tagen ihres Lebens erzählen; das Schreiben greift mich aber so sehr an, ich kann es nicht lange aushalten.
Sie und ich wir haben uns nun seit lange alles Erlebte und so manche Empfindung mitgetheilt. Während Sie nun das höchste Glück des Lebens errungen fühle ich den tiefsten
2 Uechtritz war Anfang September 1836 in Dresden zu Besuch gewesen.
3 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 207) steht „Ihres“.
4 Uechtritz hatte sich Ende Oktober 1836 mit Marie Balan verlobt.
5 Amalia Tieck hatte seit Anfang 1834 an Unterleibsbeschwerden und Wasseransammlung in den Beinen gelitten.
Schmerz, den ich je empfinden kann. Und doch berühren sich beide Zustände und sind nicht so verschieden wie man denken sollte. Wie nüchtern wäre das Leben ohne Schmerz!6 und auch im Gefühl der höchsten Wonne, und gerade wenn wir das erreichten wonach unsre Sehnsucht schmachtete, fällt gewiß ein Schatten in unser Herz und wir fühlen die geahndete Befriedigung nicht. Verzeihen Sie, mein theuerster Freund, ich sollte Ihnen dies vielleicht nicht sagen, aber ich kann gegen Sie nicht anders als ganz aus der Seele sprechen und ich bin schon seit vielen Jahren so von dem Gefühl einer unendlichen Sehnsucht durchdrungen, die, wie ich mir denke in jeder Seele lebt, und hier auf Erden nie ihr Genüge finden kann. Hätte ich mich dieser Sehnsucht nur erst ganz hingegeben, so wäre auch mein Schmerz ruhig und geläutert Hätte der Schmerz über jedes andre Gefühl gesiegt, so würde ich nur seine Süßigkeit empfinden. Ich fühle mich jetzt so fremd auf der Erde, und der Gedanke ängstigt mich am meisten, es könnte mir je wieder heimischer werden. Weshalb sollen wir nicht dem Tode näher stehen als dem Leben? es ist doch im Grunde so viel natürlicher.
Vater hat sich in jeder Hinsicht ganz herrlich benommen, er theilte alle unsre Empfindungen und war so tief erschüttert wie ich ihn nie in meinem Leben gesehen habe. Er sprach in den ersten Tagen sehr viel mit uns
6 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 207) steht ein Fragezeichen anstelle des Ausrufezeichens.
richtete alles so ein wie wir es wünschten und die Gräfinn blieb meist in ihrer Stube. Ich muß den Vater oft mit Wehmuth betrachten seit dem Sturz7 und der Krankheit ist er doch verändert, auch von diesem Schlage wird er sich nicht ganz erholen, ich glaube nicht daß er noch lange bei uns bleibt. Mir ist als müsse nun nach und nach alles von mir scheiden was mich noch an die Erde bindet, oder als wäre für mich die Stunde des Scheidens nahe. Ich habe ein dunkles Gefühl als stände8 mir noch etwas Großes bevor, als würde es nicht so bleiben wie es jetzt ist.
In der ersten Woche war uns das wahre ächte Mitgefühl das wir bei den Freunden hier gefunden eine Erleichterung, namentlich dem alten Sternberg werde ich es nie vergessen, und er kann für mich nun so viele Novellen9 schreiben als er Lust hat, sein schönes Gemüth habe ich in dieser Zeit schätzen lernen. Das Leben kommt nun nach und nach wieder in seine alte Ordnung, aber das ist gerade das Schwerste, da der Mittelpunkt fehlt, das wofür ich lebte und was namentlich in den drei letzten Jahren der Inhalt meiner Sorge, aller meiner Gedanken war. Ich sitze immer mit Agnes in der Mutter ihrer kleinen Stube, beschäftigen können wir uns fast noch10 gar nicht, selbst nicht mit Handarbeiten, neulich habe ich ihr die Hymnen an die Nacht von Novalis vorgelesen. Für mich lese ich nun11 die Schriften der heiligen Theresia.
7 Auf der Fahrt nach Baden-Baden im Sommer 1836 erlitt Tieck einen schweren Unfall, bei dem er sich Kopf- und Nackenverletzungen zuzog. Vgl. Brieffragment vom Herbst 1836, S. 1 (Bl. 1 recto).
8 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 208) steht „stünde“.
9 Von Wilhelm von Ungern-Sternberg war 1831 bspw. die Tieck gewidmete Novelle Bühne, Kunst und Liebe erschienen.
10 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 208) fehlt „noch“.
11 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 209) steht „nur“.
Abends kommen immer einige der näheren Bekannten, gelesen hat Vater noch nicht wieder. Mir werden die geselligen Stunden am aller schwersten, weil ich dann meinen Gedanken nicht so ungestört nach hängen kann, meines Vaters wegen zwinge ich mich auch an manchen Gesprächen Theil zu nehmen, ich fühle ganz was ich ihm schuldig bin und so gern seyn möchte. 12Ich werde ihm seine Güte ewig danken die er uns jetzt auch dadurch bewies, daß er nie von der Gräfinn sprach, uns nicht an sie verwies, oder von ihr sprach, was ich so sehr gefürchtet hatte. Sie berührt alles wenig und wir gehen stumm nebeneinander her. In einigen Wochen erwarten wir Raumer, was mir für Vater sehr lieb ist.
Es ist mir ein eignes Gefühl, daß die Mutter nicht länger bei uns bleiben wollte daß auch die Sorge um uns sie nicht mehr berührte, sie sah alles Irdische schon in einem höheren Lichte, sie liebte mich doch so unbeschreiblich und wußte welche Schmerzen mich nach ihrem Scheiden erwarteten. Meine Gedanken finden seitdem keinen Ruhepunkt mehr auf Erden. Sie können sich das wunderbare Gefühl nicht denken, was uns ganz durch dringt, wenn wir die Seele die wir auf der Welt am meisten geliebt haben, jenseit wissen. Wie plötzlich jedes Grauen vor dem Tode verschwindet, vor allem was ihn begleitet, und
12 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 209) folgt eine unmarkierte Auslassung bis zum Ende des Absatzes.
was uns doch sonst oft durchschauerte, auch bei der zuversichtlichsten Hoffnung auf ein ewiges, herrliches Leben. Ich glaube ich könnte jetzt mit der größten Ruhe mein eignes Grab graben sehen, der dunkle Weg ist erleuchtet und alles Grauen, alle Dunkelheit hat sich in das Leben geflüchtet, das ist sehr schwer zu überwinden, der Gedanke an die Länge der Zeit, die immer wiederkehrenden Tage, und nun vollends die wiederkehrenden Jahreszeiten und langen Jahre, und der Gedanke den Verlust zu verschmerzen, ihn einst weniger zu empfinden ist mir der aller schrecklichste und ich glaube was man Milderung durch die Zeit nennt, ist nur, daß man sich an den Schmerz, der uns anfangs etwas Fremdes ist, gewöhnt, und er uns Bedürfniß wird. So viel wie möglich suche ich mich des Gedankens an die Zukunft zu entschlagen, sollen wir doch nicht wie die Heiden ängstlich um Speise und Kleidung sorgen, und der welcher verhieß uns daran nicht Mangel leiden zu lassen wenn wir das Reich Gottes suchen, weiß ja, daß wir Kraft und Licht noch weit mehr bedürfen als alles dessen was den Leib erhält. Könnte ich mich jetzt nur alles äußeren entschlagen und mich, wonach ich mich schon oft so unbeschreiblich gesehnt habe, in die tiefste Einsamkeit zurück ziehen, ich würde bald den Frieden finden, und doch muß ich es als ein unbeschreibliches Glück erkennen, daß ich noch für andre leben kann, noch Pflichten
für Vater und Schwester zu erfüllen habe. Aber es ist eine seltsame Erfahrung die ich jetzt mache, daß uns eigentlich der erste schwere Schlag den wir erleben Alles raubt weil uns dann erst die Unsicherheit jedes Besitzes klar wird, und auch weil das Leben geknickt ist und das Gefühl fast wie erstorben.
Jetzt, wo ich fast für nichts Gedanken habe, dachte ich doch oft an den Jeremias13 und hatte eine wahre Sehnsucht das Bild noch einmal zu sehen. Ich sah es noch mit der Mutter14 und sie freute sich so sehr daran, auch würde sich mein Schmerz in dem Anblick erhoben fühlen, wie durch die schönsten Sprüche der heiligen Schrift.
Ich schreibe Ihnen so viel, mein theuerster Freund, und Alles durcheinander, Sie werden kaum daraus klug werden. Wären Sie hier, ein Blick könnte Ihnen mehr sagen als alle Briefe. Wir werden uns ja bald wieder sehen und beide in sehr verändertem Zustande. Wenn Sie Zeit und Stimmung haben schreiben Sie mir doch noch einmal. Das gewöhnliche Treiben der Menschen trifft mich schmerzlich, aber jedes Wort der Liebe und Theilnahme wirkt wie lindernder Balsam auf mein verwundetes Herz, und ich nehme es mit der größten Dankbarkeit auf. Gott sey mit Ihnen, mein liebster Freund, und bewahre Sie noch lange vor Schmerzen wie ich sie jetzt empfinde. 15Ihre Dorothea Tieck
13 Zu Eduard Bendemanns Gemälde „Jeremias auf den Trümmern Jerusalems“ vgl. den Brief vom 27. Dezember 1836, S. 3 f. (Bl. 2 recto f.).
14 Anlässlich der Ausstellung von 20 Gemälden der „Düsseldorfer Malerschule“ in Dresden im Dezember 1836.
15 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 210) folgt eine unmarkierte Auslassung der Unterschrift.