Briefe und Texte
aus dem intellektuellen
Berlin um 1800

Brief von Ludwig Tieck an Friedrich von Raumer (Dresden, 4. Januar 1834)

 

 

Faksimile Dipl. Umschrift Lesefassung Metadaten Entitäten XML Faksimile Dipl. Umschrift Lesefassung Metadaten Entitäten XML
 
 

Personen im Manuskript

Personengruppen im Manuskript

    Werke im Manuskript

    Orte im Manuskript

    Staatsbibliothek zu Berlin / Handschriftenabteilung
    Weiterverwendung nur mit Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin

    ganze XML-Datei herunterladen powered by TEI

    Aktuelle Seite

     
    263

    Tieck an Raumer

    Freilich, mein geliebtester Freund, hätte ich Ihnen schon
    seit lange lange wieder einmal schreiben sollen, allein –
    naturam si expellas — &c —. 1 Man stirbt über das Auf=
    schieben so hin – und wie verdrüßlich wird man alsdann jen=
    seits sein. O verdrüßlich! Das ist das Schlimmste in unserm
    Leben, Zorn, Gram, Schmerz, selbst Reue sind viel besser.
    Und was kann man sich eigentlich sagen? Und doch erwartet
    der Freund den Brief des Freundes, er freut sich, so wie er nur
    die Züge der Hand wahrnimmt, es schmerzt ihn, wenn sie lange
    ausbleiben. Und dennoch!! – Ja, Sie vergeben, ich weiß es,
    aber ich mir selbst nicht, und dennoch! Wenn ich am meisten an
    Sie denke, schreibe ich am wenigsten. Aber den dritten Bd
    habe ich noch nicht wieder gelesen, er ist jezt beim Buchbinder. 2
    Was die Fournier betrifft, erlaube ich mir zwar über diese
    ein Urtheil, aber nicht über meinen Freund; ich verstehe Sie
    einmal in diesem Punkte nicht: wohl aber in Ihrer Vorliebe für
    die Crelinger, oder jenes Gefühl für [...] oder was
    ich sonst aus Ihrem Leben weiß; hier, bei der Fournier ist
    mir Dichtung zu stark im Verhältniß zur Wahrheit, d. h. sie
    dichten hier ein Edles, Gutes, Freundliches in den unpassenden
    Stoff hinein. Aber lassen wir es, Sie sind so gut, edel,
    treu, wahr, daß ich Ihr Gefühl gar nicht beurtheile; ich nehme
    es an, als eine Eigenthümlichkeit eines lieben Freundes. –
    Mehr versöhne ich mich allgemach (aber nur etwas) mit Ihrem
    Dichter Raupach. Ich nenne ihn den Ihrigen, weil er so viel,
    und nicht ohne Verstand, aus Ihren “Hohenstaufen“ abgeschrieben hat. 3

    Kommentare

    1 Vgl. Horaz: Episteln, I, 10, 24f.: “naturam expellas furca, tamen usque recurret / et mala perrumpet furtim fastidia victrix.” In deutscher Übersetzung: “Du magst die Natur mit der Forke vertreiben, sie wird dennoch zurückkehren und heimlich deine häßliche Hoffart siegreich durchbrechen.“ (Quintus Horatius Flaccus: Epistulae/Briefe, Lateinisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Bernhard Kytzler, Stuttgart 1986, S.40 und 41.)

    2 Es konnte bislang nicht ermittelt werden, um welchen Band es sich handelt.

    3 Ernst Raupach hatte in enger Anlehnung an Raumers „Geschichte der Hohenstaufen“ einen Zyklus von 16 historischen Dramen geschrieben.

    Wir haben jezt “Frdr. 2. u dessen Sohn,“ 4 mit ungewöhnlichem
    Beifall aufgeführt, und ich habe einem Herrn Porth, der
    seit kurzem hier ist, die Rolle des Kaisers einstudirt, bin
    bei den Proben gewesen und habe allenthalben Rath gegeben.
    Ich darf sagen, daß ich unpartheiisch meine Mühe und Zeit an=
    wende, wenn ich nur Nutzen erwarten darf. Porth hat keine
    Bruststimme, kein bestechendes Aeussern, u er machte als
    Kaiser mehr Effekt, als die andern sehr Beliebten ge=
    macht haben würden: weil er Rath annahm, und sich be=
    strebt, der Natur getreu, oder nahe zu bleiben. Und so
    sahe ich nach langer Zeit wieder einmal, (aber ganz, ganz
    schwacher Schatten) Flecks Art und Weise im Rezitiren,
    Gehn und Stehn. Es hilft immer, wenn ich ein Stück den
    Leuten vorlese. – Friedr. Tod 5 werden wir hier nicht
    brauchen können, aber vielleicht Cromwells Tod 6 , der eben
    angekommen ist, und den ich so eben gelesen hat. [Jeder]
    dieser Playwrights (denn Poet ist Raupach gewiß nicht) macht
    sich für die derzeitige Bühne [seine] Manier; dann be=
    handelt er den auch widerstrebenden Stoff mit Sicherheit
    eines geübten Handwerkers, und verfehlt den Effekt, den
    er will, gewiß nicht. Nach 10 oder 15 Jahren, auch wohl nach 5,
    ist freilich ein andrer Effekt Mode, und seine Farbe und
    seine Muster altfränkisch. Es ist aber nicht zu leugnen, daß
    Raupach durch sein unermüdetes Schreiben etwas gelernt
    hat. Er sezt anekdoten artig Charakterzüge geschickt ein,
    braucht unerwartete Uebergänge, weiß durch den blossen
    Dialog schon zu spannen. Nur begreife ich nicht, wer dort

    Kommentare

    4 „Kaiser Friedrich der Zweite. Zweiter Theil, oder: Friedrich und sein Sohn“ ist (der zehnte) Teil der auf Raumers „Geschichte der Hohenstaufen“ beruhenden Raupach’schen Dramenreihe „Die Hohenstaufen“.

    5 „Kaiser Friedrich der Zweite. Vierter Theil, oder: Friedrichs Tod“ ist (der zwölfte) Teil der auf Raumers „Geschichte der Hohenstaufen“ beruhenden Raupach’schen Dramenreihe „Die Hohenstaufen“.

    6 „Crommwell’s Ende“ ist der dritte Teil von Ernst Raupachs Dramentrilogie „Crommwell“.

    264
    in Berlin diese Charaktere spielen kann, wie sie gespielt sein
    müssen, um die beabsichtigte Wirkung hervor zu bringen, denn
    die emphatische Deklamation tödtet alles dies, was ich so
    eben hier lobe. Und auch begreife ich nicht, wie Tasso’s Tod
    dort hat Enthusiasm eregen können. Ein Stück, nach Gö=
    thes Werk
    , mehr als überflüssig, weil es nur schwächlich
    wiederholt, was dort vollendet ist: ohne Handlung u In=
    halt, und ohne Wahrheit und Wahrscheinlichkeit.

    Ja, mein Freund, ich werde meine Scheu überwinden, u eine
    Anzeige Ihres Buches machen. Mag es ausfallen, wie es will,
    die Liebe wird wenigstens nicht fehlen. Aber daß Sie damit
    drohen, Ostern nicht kom̄en zu wollen, hat mich erschreckt. Vielleicht
    geschieht es doch noch. Fast möchte ich die Fournier segnen, weil
    dse sSie vielleicht nach Wien zieht7, u Sie doch alsdann etwas hier
    verweilten. – Ja, Briefwechsel! Wie viel Gutes, Triviales ist
    in dem Zelterschen.8 Haben Sie in Bd II. die Stelle schon
    gefunden, wo der alles am besten wissende Zelter [erfragt],
    was Byzanz sei, – wo es läge? 9 – Mir ist das Buche
    aus der Hand gefallen. Gewisse, mehr als krasse Un=
    wissenheiten sind unverzeihlich: vollends einem Mann,
    der aus Eitelkeit auf Göthes Freundschaft den Mund so voll
    nimmt! Wie grob würde Zelter den Layen, der über
    Musik mitsprechen wollen, angelassen haben, wenn er ge=
    fragt, was Mozart, Gluck, Bach sei, oder welch ein Lands=
    mann der so viel fertigende Volti subito 10 wäre. – Und
    wahrlich, dies ist ärger, denn der Quintaner weiß das schon.
    Ein solcher durfte auch fragen, was Rom sei. – Und dabei
    der Mann, der auch Baumeister sein wollte11: er muß nie ein

    Kommentare

    7 Antonie Fournier war 1828 am Dresdner und 1829 am Berliner Hoftheater aufgetreten. 1833 ging sie nach Wien, wo sie bis 1871 dem dortigen Burgtheater angehörte.

    8 1833/34 erschien der von Riemer in sechs Bänden herausgegebene Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, die beide 1832 verstorben waren.

    9 An der besagten Stelle des Briefwechsels schreibt Zelter an Goethe: „Indem ich Dein Büchlein wieder und wieder lese, sitze ich immer fest bey der Stelle: Nur Byzanz blieb noch ein fester Sitz für die Kirche und die mit ihr verbundene Kunst. Es fehlt mir hier an historischen Hülfsmitteln, die ich mir wohl zu Hause eher zu verschaffen und zu erfragen weiß: Was war Byzanz? Wo war es? – Kannst Du mir darüber nach Deiner und meiner Art in kurzen oder wenigen Worten Aufschluß geben; so laß Dich meine Unwissenheit nicht verdrießen und belehre mich.“ (Zelter an Goethe vom 1. August 1816, in: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter Bd. 2, S. 294ff., hier S. 295). Goethe antwortet: „Byzanz steht für Constantinopel, es ist der alte Name, paßt besser in den Styl und wird in Sachen der bildenden Kunst gewöhnlich gebraucht.“ (Ebd., Goethe an Zelter vom 9. August 1816, S. 297f., hier S. 198).

    10 Italienisch für: „schnell umblättern“. Die Anweisung fand sich auf Notenblättern am Ende einer Seite.

    11 Zelter war nicht nur Musiker, sondern, dem Beruf seines Vaters folgend, auch Maurermeister.

    Buch über Architektur aufgeschlagen haben. – Es wird
    aber jezt Mode, sich der Unwissenheit nicht mehr zu schämen.
    Noch vor 20 & wohl 15 Jahren hätte dse dum̄e Frage den ganzen
    Briefwechsel ruinirt. – Was er über meinen Phantasus sagt,
    hat eigentlich gar keinen Sinn. 12 Und warum that denn dieser
    Mann, so oft wir uns wiedertrafen, u auch im Jahr [17], so freund=
    schaftlich, ja ergeben und verehrend gegen mich? Zog mich zu
    Rath, machte viel Wesens, daß ich die Akademie besuchen sollte? 13
    Es giebt, mein Freund, viel Hohlheit in der Welt; hier sehe
    ich immer, unter der Maske der Treuherzigkeit Liebedienerei, nach
    dem Maule schwatzen. – Wie sonderbar; daß Göthe seinen Wer=
    ner
    auch nicht mit Einem Worte in Schutz nimmt, von dessen
    verruchten Febr. er damals in den Ausdrücken des höchsten
    Lobes sprach: – 14 Was ist das Alles für eine kuriose Freund=
    schaft u Mittheilung! –

    ([Stempel:] Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz)

    Ist für mich etwas von Ihren Büchern, u von den
    andern, welche ich bezeichnete, erstanden? Im Falle, bitte
    ich sehr, mir dse durch die Post zu senden; den Betrag der
    Rechnung kann ich vielleicht hier der Solger geben, u Sie
    halten ihn dann von der [Sendung] zurück an Sie. –

    Grüssen Sie herzlich die liebenswürdige Frau, den
    liebsten Man̄i, die freundliche Agnes, u [Hagen] 15, [w]
    [er] sich [meiner erinnert].

    Ihr
    L. Tiek.

    Kommentare

    12 Im Rahmen des Briefwechsels berichtet Zelter Goethe von seiner Lektüre der ersten beiden Teile von Tiecks „Phantasus“:
    „Eben habe ich auch den ersten Theil des Phantasus gelesen. Nun ja Herr! ich glaube ihr seyd ein Poet! doch mit Gunst: – von der horizontalen Linie! Ich sage das nur (denn das Buch ist mir interessant genug gewesen) weil ich mich dabey erinnerte, daß der Kohl grün war ehe er gekocht wurde: denn der Verfasser äußerte sich letzthin sehr laut und bestimmt gegen den Schutz welchen Du dem Gelegenheits=Gedicht angedeihen lassen, und daß der Gehalt für die Poesie, in souverainen Staaten, von Oben her komme u. s. w. – Wenn es eine Kunst ist solche Geschichten aufzusieden und genießbar zu machen, um sich nach Jahrhunderten noch den Tod daran zu lesen; so ist es wenigstens eine sehr kleine Kunst, worüber die Societät der Irrlichter wohl lachen muß, sie mag wollen oder nicht. Denn das konnte wohl nur einem Ziebinger einfallen sich den Leib mit solchem Ballast aufzudunsen, um ihn nachher auf solche Art haufenweis von sich zu geben. Aber es giebt Leute welche dies doppelte Concoct mit einem Appetite zu sich nehmen als ob's mit Sonnenstrahlen gekocht wäre.“ (Brief von Zelter an Goethe vom 12. Februar 1813, Briefwechsel Band II (1833), S. 71f.
    Und am 11. März 1813:
    „Nun habe ich auch den zweyten Theil des Phantasus gelesen, worin mir besonders die verkehrte Welt vielen Spaß gemacht hat. Diese verkehrte Welt aber ist Alle Welt, und es ist mir hier erst eingefallen daß die Welt so seyn muß, wenn man Freude soll daran und darin haben können. Schön bedanken würde ich mich vor einer unverkehrten Welt, worin für uns beyde kein Platz wäre. Uebrigens (spricht Hr. Ernst) bist Du ein merkwürdiger Mann, dessen Bemühungen löblich sind, trotz Deiner Furcht vor dem Genialischen. Deine frühern Gedichte lassen sich genießen und haben gewirkt, doch solche Menschen wie der Mediceer – sind sehr selten. So spricht der Herr!“ (Ebd., S. 77).

    13 Zelter war seit 1809 Professor an der Akademie der Künste gewesen.

    14 Zacharias Werners Stück „Der vierundzwanzigste Februar“ wurde 1810 unter der Leitung Goethes am Weimarer Hoftheater zum ersten Mal öffentlich aufgeführt (nach einer privaten Uraufführung bei Madame de Staël 1809).
    Zu Zelters und Goethes Austausch über Zacharias Werner vgl. Band I des Briefwechsels (1833).

    15 Möglicherweise ist Friedrich Heinrich von der Hagen gemeint, der wie Raumer Professor an der Berliner Universität war.

    Freilich, mein geliebtester Freund, hätte ich Ihnen schon seit lange lange wieder einmal schreiben sollen, allein – naturam si expellas — &c —. 1 Man stirbt über das Aufschieben so hin – und wie verdrüßlich wird man alsdann jenseits sein. O verdrüßlich! Das ist das Schlimmste in unserm Leben, Zorn, Gram, Schmerz, selbst Reue sind viel besser. Und was kann man sich eigentlich sagen? Und doch erwartet der Freund den Brief des Freundes, er freut sich, so wie er nur die Züge der Hand wahrnimmt, es schmerzt ihn, wenn sie lange ausbleiben. Und dennoch!! – Ja, Sie vergeben, ich weiß es, aber ich mir selbst nicht, und dennoch! Wenn ich am meisten an Sie denke, schreibe ich am wenigsten. Aber den dritten Band habe ich noch nicht wieder gelesen, er ist jezt beim Buchbinder. 2 Was die Fournier betrifft, erlaube ich mir zwar über diese ein Urtheil, aber nicht über meinen Freund; ich verstehe Sie einmal in diesem Punkte nicht: wohl aber in Ihrer Vorliebe für die Crelinger, oder was ich sonst aus Ihrem Leben weiß; hier, bei der Fournier ist mir Dichtung zu stark im Verhältniß zur Wahrheit, das heißt sie dichten hier ein Edles, Gutes, Freundliches in den unpassenden Stoff hinein. Aber lassen wir es, Sie sind so gut, edel, treu, wahr, daß ich Ihr Gefühl gar nicht beurtheile; ich nehme es an, als eine Eigenthümlichkeit eines lieben Freundes. – Mehr versöhne ich mich allgemach (aber nur etwas) mit Ihrem Dichter Raupach. Ich nenne ihn den Ihrigen, weil er so viel, und nicht ohne Verstand, aus Ihren “Hohenstaufen“ abgeschrieben hat. 3

    Kommentare

    1 Vgl. Horaz: Episteln, I, 10, 24f.: “naturam expellas furca, tamen usque recurret / et mala perrumpet furtim fastidia victrix.” In deutscher Übersetzung: “Du magst die Natur mit der Forke vertreiben, sie wird dennoch zurückkehren und heimlich deine häßliche Hoffart siegreich durchbrechen.“ (Quintus Horatius Flaccus: Epistulae/Briefe, Lateinisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Bernhard Kytzler, Stuttgart 1986, S.40 und 41.)

    2 Es konnte bislang nicht ermittelt werden, um welchen Band es sich handelt.

    3 Ernst Raupach hatte in enger Anlehnung an Raumers „Geschichte der Hohenstaufen“ einen Zyklus von 16 historischen Dramen geschrieben.

    Wir haben jezt “Friedrich 2. und dessen Sohn,“ 4 mit ungewöhnlichem Beifall aufgeführt, und ich habe einem Herrn Porth, der seit kurzem hier ist, die Rolle des Kaisers einstudirt, bin bei den Proben gewesen und habe allenthalben Rath gegeben. Ich darf sagen, daß ich unpartheiisch meine Mühe und Zeit anwende, wenn ich nur Nutzen erwarten darf. Porth hat keine Bruststimme, kein bestechendes Aeussern, und er machte als Kaiser mehr Effekt, als die andern sehr Beliebten gemacht haben würden: weil er Rath annahm, und sich bestrebt, der Natur getreu, oder nahe zu bleiben. Und so sahe ich nach langer Zeit wieder einmal, (aber ganz, ganz schwacher Schatten) Flecks Art und Weise im Rezitiren, Gehn und Stehn. Es hilft immer, wenn ich ein Stück den Leuten vorlese. – Friedrichs Tod 5 werden wir hier nicht brauchen können, aber vielleicht Cromwells Tod 6 , der eben angekommen ist, und den ich so eben gelesen hat. [Jeder] dieser Playwrights (denn Poet ist Raupach gewiß nicht) macht sich für die derzeitige Bühne [seine] Manier; dann behandelt er den auch widerstrebenden Stoff mit Sicherheit eines geübten Handwerkers, und verfehlt den Effekt, den er will, gewiß nicht. Nach 10 oder 15 Jahren, auch wohl nach 5, ist freilich ein andrer Effekt Mode, und seine Farbe und seine Muster altfränkisch. Es ist aber nicht zu leugnen, daß Raupach durch sein unermüdetes Schreiben etwas gelernt hat. Er sezt anekdoten artig Charakterzüge geschickt ein, braucht unerwartete Uebergänge, weiß durch den blossen Dialog schon zu spannen. Nur begreife ich nicht, wer dort

    Kommentare

    4 „Kaiser Friedrich der Zweite. Zweiter Theil, oder: Friedrich und sein Sohn“ ist (der zehnte) Teil der auf Raumers „Geschichte der Hohenstaufen“ beruhenden Raupach’schen Dramenreihe „Die Hohenstaufen“.

    5 „Kaiser Friedrich der Zweite. Vierter Theil, oder: Friedrichs Tod“ ist (der zwölfte) Teil der auf Raumers „Geschichte der Hohenstaufen“ beruhenden Raupach’schen Dramenreihe „Die Hohenstaufen“.

    6 „Crommwell’s Ende“ ist der dritte Teil von Ernst Raupachs Dramentrilogie „Crommwell“.

    in Berlin diese Charaktere spielen kann, wie sie gespielt sein müssen, um die beabsichtigte Wirkung hervor zu bringen, denn die emphatische Deklamation tödtet alles dies, was ich so eben hier lobe. Und auch begreife ich nicht, wie Tasso’s Tod dort hat Enthusiasm eregen können. Ein Stück, nach Göthes Werk, mehr als überflüssig, weil es nur schwächlich wiederholt, was dort vollendet ist: ohne Handlung und Inhalt, und ohne Wahrheit und Wahrscheinlichkeit.

    Ja, mein Freund, ich werde meine Scheu überwinden, und eine Anzeige Ihres Buches machen. Mag es ausfallen, wie es will, die Liebe wird wenigstens nicht fehlen. Aber daß Sie damit drohen, Ostern nicht kommen zu wollen, hat mich erschreckt. Vielleicht geschieht es doch noch. Fast möchte ich die Fournier segnen, weil diese Sie vielleicht nach Wien zieht7, und Sie doch alsdann etwas hier verweilten. – Ja, Briefwechsel! Wie viel Gutes, Triviales ist in dem Zelterschen.8 Haben Sie in Bd II. die Stelle schon gefunden, wo der alles am besten wissende Zelter [erfragt], was Byzanz sei, – wo es läge? 9 – Mir ist das Buche aus der Hand gefallen. Gewisse, mehr als krasse Unwissenheiten sind unverzeihlich: vollends einem Mann, der aus Eitelkeit auf Göthes Freundschaft den Mund so voll nimmt! Wie grob würde Zelter den Layen, der über Musik mitsprechen wollen, angelassen haben, wenn er gefragt, was Mozart, Gluck, Bach sei, oder welch ein Landsmann der so viel fertigende Volti subito 10 wäre. – Und wahrlich, dies ist ärger, denn der Quintaner weiß das schon. Ein solcher durfte auch fragen, was Rom sei. – Und dabei der Mann, der auch Baumeister sein wollte11: er muß nie ein

    Kommentare

    7 Antonie Fournier war 1828 am Dresdner und 1829 am Berliner Hoftheater aufgetreten. 1833 ging sie nach Wien, wo sie bis 1871 dem dortigen Burgtheater angehörte.

    8 1833/34 erschien der von Riemer in sechs Bänden herausgegebene Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, die beide 1832 verstorben waren.

    9 An der besagten Stelle des Briefwechsels schreibt Zelter an Goethe: „Indem ich Dein Büchlein wieder und wieder lese, sitze ich immer fest bey der Stelle: Nur Byzanz blieb noch ein fester Sitz für die Kirche und die mit ihr verbundene Kunst. Es fehlt mir hier an historischen Hülfsmitteln, die ich mir wohl zu Hause eher zu verschaffen und zu erfragen weiß: Was war Byzanz? Wo war es? – Kannst Du mir darüber nach Deiner und meiner Art in kurzen oder wenigen Worten Aufschluß geben; so laß Dich meine Unwissenheit nicht verdrießen und belehre mich.“ (Zelter an Goethe vom 1. August 1816, in: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter Bd. 2, S. 294ff., hier S. 295). Goethe antwortet: „Byzanz steht für Constantinopel, es ist der alte Name, paßt besser in den Styl und wird in Sachen der bildenden Kunst gewöhnlich gebraucht.“ (Ebd., Goethe an Zelter vom 9. August 1816, S. 297f., hier S. 198).

    10 Italienisch für: „schnell umblättern“. Die Anweisung fand sich auf Notenblättern am Ende einer Seite.

    11 Zelter war nicht nur Musiker, sondern, dem Beruf seines Vaters folgend, auch Maurermeister.

    Buch über Architektur aufgeschlagen haben. – Es wird aber jezt Mode, sich der Unwissenheit nicht mehr zu schämen. Noch vor 20 & wohl 15 Jahren hätte diese dumme Frage den ganzen Briefwechsel ruinirt. – Was er über meinen Phantasus sagt, hat eigentlich gar keinen Sinn. 12 Und warum that denn dieser Mann, so oft wir uns wiedertrafen, und auch im Jahr [17], so freundschaftlich, ja ergeben und verehrend gegen mich? Zog mich zu Rath, machte viel Wesens, daß ich die Akademie besuchen sollte? 13 Es giebt, mein Freund, viel Hohlheit in der Welt; hier sehe ich immer, unter der Maske der Treuherzigkeit Liebedienerei, nach dem Maule schwatzen. – Wie sonderbar; daß Göthe seinen Werner auch nicht mit Einem Worte in Schutz nimmt, von dessen verruchten Februar er damals in den Ausdrücken des höchsten Lobes sprach: – 14 Was ist das Alles für eine kuriose Freundschaft und Mittheilung! –

    Ist für mich etwas von Ihren Büchern, und von den andern, welche ich bezeichnete, erstanden? Im Falle, bitte ich sehr, mir diese durch die Post zu senden; den Betrag der Rechnung kann ich vielleicht hier der Solger geben, und Sie halten ihn dann von der [Sendung] zurück an Sie. –

    Grüssen Sie herzlich die liebenswürdige Frau, den liebsten Manni, die freundliche Agnes, und [Hagen] 15, [wenn] [er] sich [meiner erinnert].

    Ihr Ludwig Tiek.

    Kommentare

    12 Im Rahmen des Briefwechsels berichtet Zelter Goethe von seiner Lektüre der ersten beiden Teile von Tiecks „Phantasus“: „Eben habe ich auch den ersten Theil des Phantasus gelesen. Nun ja Herr! ich glaube ihr seyd ein Poet! doch mit Gunst: – von der horizontalen Linie! Ich sage das nur (denn das Buch ist mir interessant genug gewesen) weil ich mich dabey erinnerte, daß der Kohl grün war ehe er gekocht wurde: denn der Verfasser äußerte sich letzthin sehr laut und bestimmt gegen den Schutz welchen Du dem Gelegenheits=Gedicht angedeihen lassen, und daß der Gehalt für die Poesie, in souverainen Staaten, von Oben her komme u. s. w. – Wenn es eine Kunst ist solche Geschichten aufzusieden und genießbar zu machen, um sich nach Jahrhunderten noch den Tod daran zu lesen; so ist es wenigstens eine sehr kleine Kunst, worüber die Societät der Irrlichter wohl lachen muß, sie mag wollen oder nicht. Denn das konnte wohl nur einem Ziebinger einfallen sich den Leib mit solchem Ballast aufzudunsen, um ihn nachher auf solche Art haufenweis von sich zu geben. Aber es giebt Leute welche dies doppelte Concoct mit einem Appetite zu sich nehmen als ob's mit Sonnenstrahlen gekocht wäre.“ (Brief von Zelter an Goethe vom 12. Februar 1813, Briefwechsel Band II (1833), S. 71f. Und am 11. März 1813: „Nun habe ich auch den zweyten Theil des Phantasus gelesen, worin mir besonders die verkehrte Welt vielen Spaß gemacht hat. Diese verkehrte Welt aber ist Alle Welt, und es ist mir hier erst eingefallen daß die Welt so seyn muß, wenn man Freude soll daran und darin haben können. Schön bedanken würde ich mich vor einer unverkehrten Welt, worin für uns beyde kein Platz wäre. Uebrigens (spricht Hr. Ernst) bist Du ein merkwürdiger Mann, dessen Bemühungen löblich sind, trotz Deiner Furcht vor dem Genialischen. Deine frühern Gedichte lassen sich genießen und haben gewirkt, doch solche Menschen wie der Mediceer – sind sehr selten. So spricht der Herr!“ (Ebd., S. 77).

    13 Zelter war seit 1809 Professor an der Akademie der Künste gewesen.

    14 Zacharias Werners Stück „Der vierundzwanzigste Februar“ wurde 1810 unter der Leitung Goethes am Weimarer Hoftheater zum ersten Mal öffentlich aufgeführt (nach einer privaten Uraufführung bei Madame de Staël 1809). Zu Zelters und Goethes Austausch über Zacharias Werner vgl. Band I des Briefwechsels (1833).

    15 Möglicherweise ist Friedrich Heinrich von der Hagen gemeint, der wie Raumer Professor an der Berliner Universität war.