Briefe und Texte
aus dem intellektuellen
Berlin um 1800

Brief von Dorothea Tieck an Friedrich von Uechtritz (Dresden, 10. November 1837)

 

 

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    27.
    Ihr Brief, mein theuerster Freund, hat mich
    sehr erfreut, da er nur Gutes enthält, und
    mir zeigt wie glücklich und zufrieden1 Sie sind.
    In einer solchen Stimmung ist das Schreiben ein
    Vergnügen, anders ist es mit mir, und ich
    verschob es deshalb auch2 von Tage zu Tage Ihnen
    zu antworten. Ich kann nicht sagen daß ich
    unzufrieden bin, aber das Leben hat so alle
    Farbe und allen Reiz für mich verloren,
    daß es mir schwer wird mich mitzutheilen oder
    etwas zu erzählen, ich habe mich selbst noch nicht
    entschließen können etwas zu lesen, und bin
    fast immer mit der trocknen, theilweise
    langweiligen Arbeit an den Washingtonschen
    Briefen beschäftigt.3 Es ist mir ein beruhigen=
    des Gefühl auf diese Weise doch etwas für
    die Zukunft meiner Schwester thun zu können
    denn für mich selbst dünkt es mich kaum der
    Mühe werth.

    Seit Ihrer Abreise4 ist hier so Manches vorge=
    fallen, erstlich hat Vater zwei Novellen ge=
    schrieben, von denen die eine,5 kleinere mir
    vorzüglich gefällt, beide sind sehr heiter, und
    zeugen von einer Stimmung, die besser seyn
    muß, als vman es denken sollte, wenn man
    ihn täglich sieht, er klagt aber nicht, und auch
    seine Gesundheit ist erträglicher als den Som̄er

    Kommentare

    1 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 215) fehlt „und zufrieden“.

    2 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 215) fehlt „auch“.

    3 Im Auftrag Friedrich von Raumers fertigte Dorothea Tieck eine auszugsweise Übersetzung der von Jared Sparks verfassten 12-bändigen Washington-Biographie The Life and Writings of George Washington an.

    4 Anlässlich seiner Hochzeit am 18. Mai 1837 hatte Uechtritz auch in Dresden einen Besuch abgestattet.

    5 Die kleinere der beiden 1837 entstandenen Novellen ist Des Lebens Ueberfluss, die andere Das Liebeswerben.

    Es war mir sehr interessant Ihren Bruder Rudolf
    kennen zu lernen, er hat so viel Aehnlichkeit
    mit Ihnen, und ist doch wieder so ganz anders.
    6Leider habe ich ihn wenig gesehen, denn den Mit=
    tag bei Petschkens war nur Agnes eingeladen,;
    und den Abend bei uns blieben sie nicht lange, da
    es sehr heiß war, und sie den andern Morgen
    früh wieder abreisen wollten, auch die Frau hat
    mir recht gut gefallen, und ich fand sie hübscher
    und jugendlicher als ich erwartet hatte.
    Löbell
    war drei Wochen hier, ich fand sein Aussehen
    elend, er war aber heitrer und vernünfti=
    ger als sonst, wir haben uns wenig um ein=
    ander bekümmert, und so ging es recht gut.
    Vater las in der Zeit die beiden Novellen
    zuerst vor, und sie machten Löbell große
    Freude. Es ist recht schade, daß die Novellen
    zu spät fertig geworden sind, und nicht mehr
    in der Urania, oder wozu sie sonst bestimmt
    waren, aufgenommen werden konnten, nun
    können sie erst künftigen Herbst gedruckt
    werden.7

    Im vorigen Monath waren Raumers, die uns
    ganz unerwartet und überraschend kamen,
    eine Woche hier, es freute mich recht, die klei=
    ne Agnes, die ich nur als Kind gesehen hatte,
    kennen zu lernen, sie hat etwas sehr Origi=
    nelles, und jede wahre Eigenthümlichkeit,
    sie mag seyn wie sie will, finde ich immer in=
    teressant. Alle waren von ihrem Aufenthalt
    in Paris sehr entzückt und erzählten viel,
    Steffens kamen an, als Raumers noch hier

    Kommentare

    6 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 215) folgt eine unmarkierte Auslassung des folgenden Satzes bis einschließlich „erwartet hatte“.

    7 Beide Novellen erschienen erst Anfang 1839. Des Lebens Ueberfluss in der Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1839 und Das Liebeswerben in der Helena. Taschenbuch für das Jahr 1839.

    waren, sie hatten Baiern, Salzburg und Tyrol
    bereist, und sich noch einige Wochen in Wien auf=
    gehalten, auch sie wußten viel zu erzählen.

    Ich habe es in der Zeit recht empfunden, wie ab=
    gestumpft ich bin, denn alle diese Erzählungen
    interessirten mich gar nicht, ich wünsche weder
    fremde Länder und Oerter8 zu sehen, noch da=
    von zu hören, und alle meine Wünsche beschränken
    sich auf Stille und Einförmigkeit. In den Abend=
    stunden haben wir jetzt Steffens neuestes
    Buch, die Revolution, miteinander gelesen, und
    ich finde es so unbeschreiblich schwach, und so gar
    nichts daran zu loben, daß es mir förmlich
    einen melancholischen Eindruck gemacht hat,
    weil man glauben muß, nur ein Mensch dessen
    Geisteskräfte schon sehr abgenommen haben
    kann ein solches Buch schreiben.

    Das Neueste und Wichtigste was in Dresden
    vorgefallen ist, daß Bendemann wieder hier
    war, und einen Auftrag vom König bekom̄en
    hat, der inhn wohl mehrere Jahre in Dresden
    fest halten wird, er soll einen großen Saal
    im Schlosse ausmalen,9 und ist so liebenswürdig
    diese Arbeit zu übernehmen. Mich erfreut es
    wahrhaft daß Dresden so hoch geehrt wird,
    an uns denke ich eigentlich dabei nicht, denn
    ich glaube kaum daß wir Bendemann viel
    sehen werden wenn er ganz hier lebt. Ich
    weiß nicht wie es zugeht, aber unsre Häuslichkeit
    wird immer stiller und trauriger, und wir
    sitzen Abends oft allein, theils kommen
    weniger Menschen zu uns, oft läßt auch

    Kommentare

    8 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 216) steht „Orte“.

    9 Vor allem durch die Vermittlung von Carl Gustav Carus, wurde Bendemann 1838 durch König Friedrich August II. nach Dresden berufen, um drei Säle im Dresdner Residenzschloss auszumalen; vgl. Brief vom 6. April 1837, S. 3 (Bl. 2 recto). Damit verbunden war auch eine Professur für Historienmalerei an der Akademie der Künste. Vgl. Scholl: Vor den Gemälden, S. 87.

    Vater alles10 abweisen, weil er sich doch ange=
    griffen fühlt. Die kurze Zeit, wo Bendemann
    jetzt hier war kam er oft zu uns, er aß auch
    einen Mittag hier und war unbeschreiblich lie=
    benswürdig. In seiner milden einfachen Weise
    hat er wirklich etwas von einem Engel.

    In der Singakademie ist der Paulus von Men=
    delson
    einstudirt, und ich habe vorgestern die
    Hauptprobe gehört. Es ist ein himmlisches Werk
    und seit dem Messias von Händel und der Bach=
    schen Passion hat keine Musik mich so entzükt
    Montag11 werde ich es in der Aufführung zum
    zweiten Mal hören, es ging recht gut, beson=
    ders die Chöre, und Agnes hat die kleine
    Solopartie sehr schön gesungen.

    Die Zeit seit Sie bei uns waren ist mir so schnell vergangen, daß
    ich es kaum begreifen kann, wie ein ganzer
    Sommer dazwischen liegt. Wie habe ich mich vor die=
    sem Sommer gefürchtet. So liegt die Vergangen=
    heit mit allen ihren Leiden und Schmerzen hinter
    uns, und jeder Tag bringt uns dem Ziele näher
    wo dann keine Zeit und kein Schmerz mehr ist.
    Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie diese Betrach=
    tung mich oft mit dem Leben und dem Tode ver=
    söhnt, dann ist es mir auch, als wären alle mei=
    ne Sünden getilgt, und die schwere Rechenschaft
    für mein ganzes Leben schreckt mich nicht mehr
    wie sonst. Gott macht alles gut, und offenbart
    sich uns im Schmerz am aller liebevollsten und
    vertraulichsten.

    Doch das Blatt geht zu Ende, und das ist gut
    sonst fände ich auch noch kein Ende mit Ihnen zu
    sprechen. Tausend herzliche Grüße an Ihre liebe
    Frau, Agnes dankt ihr für ihren schönen Brief
    und wird nächstens Sschreiben. Leben Sie wohl und
    glücklich12
    Ihre Dorothea.

    Kommentare

    10 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 216) steht „Alle“.

    11 Montag, den 13. November 1837.

    12 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 217) steht hier ein Ausrufezeichen.

    Ihr Brief, mein theuerster Freund, hat mich sehr erfreut, da er nur Gutes enthält, und mir zeigt wie glücklich und zufrieden1 Sie sind. In einer solchen Stimmung ist das Schreiben ein Vergnügen, anders ist es mit mir, und ich verschob es deshalb auch2 von Tage zu Tage Ihnen zu antworten. Ich kann nicht sagen daß ich unzufrieden bin, aber das Leben hat so alle Farbe und allen Reiz für mich verloren, daß es mir schwer wird mich mitzutheilen oder etwas zu erzählen, ich habe mich selbst noch nicht entschließen können etwas zu lesen, und bin fast immer mit der trocknen, theilweise langweiligen Arbeit an den Washingtonschen Briefen beschäftigt.3 Es ist mir ein beruhigendes Gefühl auf diese Weise doch etwas für die Zukunft meiner Schwester thun zu können denn für mich selbst dünkt es mich kaum der Mühe werth.

    Seit Ihrer Abreise4 ist hier so Manches vorgefallen, erstlich hat Vater zwei Novellen geschrieben, von denen die eine,5 kleinere mir vorzüglich gefällt, beide sind sehr heiter, und zeugen von einer Stimmung, die besser seyn muß, als man es denken sollte, wenn man ihn täglich sieht, er klagt aber nicht, und auch seine Gesundheit ist erträglicher als den Sommer

    Kommentare

    1 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 215) fehlt „und zufrieden“.

    2 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 215) fehlt „auch“.

    3 Im Auftrag Friedrich von Raumers fertigte Dorothea Tieck eine auszugsweise Übersetzung der von Jared Sparks verfassten 12-bändigen Washington-Biographie The Life and Writings of George Washington an.

    4 Anlässlich seiner Hochzeit am 18. Mai 1837 hatte Uechtritz auch in Dresden einen Besuch abgestattet.

    5 Die kleinere der beiden 1837 entstandenen Novellen ist Des Lebens Ueberfluss, die andere Das Liebeswerben.

    Es war mir sehr interessant Ihren Bruder Rudolf kennen zu lernen, er hat so viel Aehnlichkeit mit Ihnen, und ist doch wieder so ganz anders. 6Leider habe ich ihn wenig gesehen, denn den Mittag bei Petschkens war nur Agnes eingeladen, und den Abend bei uns blieben sie nicht lange, da es sehr heiß war, und sie den andern Morgen früh wieder abreisen wollten, auch die Frau hat mir recht gut gefallen, und ich fand sie hübscher und jugendlicher als ich erwartet hatte. Löbell war drei Wochen hier, ich fand sein Aussehen elend, er war aber heitrer und vernünftiger als sonst, wir haben uns wenig um einander bekümmert, und so ging es recht gut. Vater las in der Zeit die beiden Novellen zuerst vor, und sie machten Löbell große Freude. Es ist recht schade, daß die Novellen zu spät fertig geworden sind, und nicht mehr in der Urania, oder wozu sie sonst bestimmt waren, aufgenommen werden konnten, nun können sie erst künftigen Herbst gedruckt werden.7

    Im vorigen Monath waren Raumers, die uns ganz unerwartet und überraschend kamen, eine Woche hier, es freute mich recht, die kleine Agnes, die ich nur als Kind gesehen hatte, kennen zu lernen, sie hat etwas sehr Originelles, und jede wahre Eigenthümlichkeit, sie mag seyn wie sie will, finde ich immer interessant. Alle waren von ihrem Aufenthalt in Paris sehr entzückt und erzählten viel, Steffens kamen an, als Raumers noch hier

    Kommentare

    6 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 215) folgt eine unmarkierte Auslassung des folgenden Satzes bis einschließlich „erwartet hatte“.

    7 Beide Novellen erschienen erst Anfang 1839. Des Lebens Ueberfluss in der Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1839 und Das Liebeswerben in der Helena. Taschenbuch für das Jahr 1839.

    waren, sie hatten Baiern, Salzburg und Tyrol bereist, und sich noch einige Wochen in Wien aufgehalten, auch sie wußten viel zu erzählen.

    Ich habe es in der Zeit recht empfunden, wie abgestumpft ich bin, denn alle diese Erzählungen interessirten mich gar nicht, ich wünsche weder fremde Länder und Oerter8 zu sehen, noch davon zu hören, und alle meine Wünsche beschränken sich auf Stille und Einförmigkeit. In den Abendstunden haben wir jetzt Steffens neuestes Buch, die Revolution, miteinander gelesen, und ich finde es so unbeschreiblich schwach, und so gar nichts daran zu loben, daß es mir förmlich einen melancholischen Eindruck gemacht hat, weil man glauben muß, nur ein Mensch dessen Geisteskräfte schon sehr abgenommen haben kann ein solches Buch schreiben.

    Das Neueste und Wichtigste was in Dresden vorgefallen ist, daß Bendemann wieder hier war, und einen Auftrag vom König bekommen hat, der ihn wohl mehrere Jahre in Dresden fest halten wird, er soll einen großen Saal im Schlosse ausmalen,9 und ist so liebenswürdig diese Arbeit zu übernehmen. Mich erfreut es wahrhaft daß Dresden so hoch geehrt wird, an uns denke ich eigentlich dabei nicht, denn ich glaube kaum daß wir Bendemann viel sehen werden wenn er ganz hier lebt. Ich weiß nicht wie es zugeht, aber unsre Häuslichkeit wird immer stiller und trauriger, und wir sitzen Abends oft allein, theils kommen weniger Menschen zu uns, oft läßt auch

    Kommentare

    8 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 216) steht „Orte“.

    9 Vor allem durch die Vermittlung von Carl Gustav Carus, wurde Bendemann 1838 durch König Friedrich August II. nach Dresden berufen, um drei Säle im Dresdner Residenzschloss auszumalen; vgl. Brief vom 6. April 1837, S. 3 (Bl. 2 recto). Damit verbunden war auch eine Professur für Historienmalerei an der Akademie der Künste. Vgl. Scholl: Vor den Gemälden, S. 87.

    Vater alles10 abweisen, weil er sich doch angegriffen fühlt. Die kurze Zeit, wo Bendemann jetzt hier war kam er oft zu uns, er aß auch einen Mittag hier und war unbeschreiblich liebenswürdig. In seiner milden einfachen Weise hat er wirklich etwas von einem Engel.

    In der Singakademie ist der Paulus von Mendelson einstudirt, und ich habe vorgestern die Hauptprobe gehört. Es ist ein himmlisches Werk und seit dem Messias von Händel und der Bachschen Passion hat keine Musik mich so entzükt Montag11 werde ich es in der Aufführung zum zweiten Mal hören, es ging recht gut, besonders die Chöre, und Agnes hat die kleine Solopartie sehr schön gesungen.

    Die Zeit seit Sie bei uns waren ist mir so schnell vergangen, daß ich es kaum begreifen kann, wie ein ganzer Sommer dazwischen liegt. Wie habe ich mich vor diesem Sommer gefürchtet. So liegt die Vergangenheit mit allen ihren Leiden und Schmerzen hinter uns, und jeder Tag bringt uns dem Ziele näher wo dann keine Zeit und kein Schmerz mehr ist. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie diese Betrachtung mich oft mit dem Leben und dem Tode versöhnt, dann ist es mir auch, als wären alle meine Sünden getilgt, und die schwere Rechenschaft für mein ganzes Leben schreckt mich nicht mehr wie sonst. Gott macht alles gut, und offenbart sich uns im Schmerz am aller liebevollsten und vertraulichsten.

    Doch das Blatt geht zu Ende, und das ist gut sonst fände ich auch noch kein Ende mit Ihnen zu sprechen. Tausend herzliche Grüße an Ihre liebe Frau, Agnes dankt ihr für ihren schönen Brief und wird nächstens schreiben. Leben Sie wohl und glücklich12 Ihre Dorothea.

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    10 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 216) steht „Alle“.

    11 Montag, den 13. November 1837.

    12 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 217) steht hier ein Ausrufezeichen.