Briefe und Texte
aus dem intellektuellen
Berlin um 1800

Brief von Dorothea Tieck an Friedrich von Uechtritz (Dresden, 7. Januar 1839)

 

 

Faksimile Dipl. Umschrift Lesefassung Metadaten Entitäten XML Faksimile Dipl. Umschrift Lesefassung Metadaten Entitäten XML
 
 

Personen im Manuskript

Personengruppen im Manuskript

    Werke im Manuskript

    Orte im Manuskript

    Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz
    Weiterverwendung nur mit Genehmigung der Bibliothek

    ganze XML-Datei herunterladen powered by TEI

    Aktuelle Seite

     
    30. 1.


    Vorgestern, mein theuerster Freund, erhielt
    ich Ihren Brief,1 den ich wahrlich nicht verdient
    habe. Denken Sie nicht, daß ich mich entschuldigen
    werde, ich sage nur peccavi2 und bekenne, daß
    ich mich selbst ganz schändlich und mein Betra=
    gen unverzeihlich finde; doch glauben Sie es mir,
    wenn Sie es noch nicht wissen sollten: Ein jedes
    Verbrechen führt die Strafe mit sich, daß habe
    ich in den Gewissensbissen empfunden, die mich
    quälten, so oft ich an Sie dachte. Daß Sie böse
    sind freut mich sehr; denn ich sehe daraus, daß
    es Ihnen noch nicht ganz gleichgültig ist, ob Sie
    etwas von mir hören oder nicht, und ich habe
    bei dieser Gelegenheit die Erfahrung gemacht
    wie ich doch noch nicht so ganz unempfänglich
    für die Freude bin, als ich es oft glaube.
    Daß ich absichtlich nicht geschrieben hätte, weil
    Sie mich damals so lange warten ließen, kann
    Ihnen wohl nie im Ernste eingefallen seyn, im
    Gegentheil nahm ich mir vor, als Ihr lange er=
    warteter Brief kam, sogleich zu antworten.
    3(Von Ihren erfreulichen Aussichten hatte ich schon
    gehört, und mich herzlich darüber gefreut,
    möge Gott Seinen Segen dazu geben, und Ihnen
    Allen die Zeit der Sorge und des Leidens glücklich
    überstehen helfen.4)

    Obgleich ich mich nicht entschuldigen wollte, muß
    ich Ihnen doch im Ernste Ssagen, weshalb ich so
    ungern schreibe, und mir oft vornehme es

    Kommentare

    1 Es handelt sich hierbei um den einzigen an Dorothea Tieck überlieferten Brief Uechtritz' von Dezember 1838. (Westfälisches Handschriftenarchiv, Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Signatur: Atg. 1991.)

    2 Lat. ,ich habe gesündigt‘.

    3 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 218) folgt eine unmarkierte Auslassung bis zum Ende des Absatzes.

    4 Es handelt sich bei den „erfreulichen Aussichten“ möglicherweise um eine Schwangerschaft Marie von Uechtritz'. Vgl. den einzigen an Dorothea Tieck überlieferten Brief Uechtritz' von Dezember 1838, Bl. 2 verso: „Meine Frau wird wohl Ihrer Schwester das nähere über die frohen Hoffnungen melden, denen ich mich für das nächste Jahr hingeben darf.“ (Westfälisches Handschriftenarchiv, Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Signatur: Atg. 1991.) Über die Geburt eines Kindes ist jedoch nichts bekannt; die Ehe blieb offiziell kinderlos.

    gar nicht mehr zu thun, und allen Verkehr mit
    meinen Freunden, oder vielmehr mit Ihnen, den̄
    Sie sind der einzige, den ich wahrhaft so nen̄en
    kann, abzubrechen: Ich hätte Ihnen so Vieles zu
    sagen, was sich so schwer schreiben läßt, und
    nur so Weniges, das sich für einen Brief eignet.
    Ich mache mir fast Vorwürfe, über meine La=
    ge und meine Verhältnisse nachzudenken, und
    möchte mich am liebsten nie darüber ausspre=
    chen; Sie sind der Einzige auf der Welt, gegen
    den ich mir eine Mittheilung erlaube, doch wie viel
    leichter würde es mir mündlich werden. 5(Wer
    unser Leben so äußerlich mit ansieht, denckt viel=
    leicht es sey recht erträglich, ja sogar angenehm,
    und doch glaube ich oft darunter erliegen zu müs=
    sen. Daß wir alle gesund geblieben habe ich am
    Schlusse des Jahres mit der innigsten Dankbar=
    keit gegen Gott erkannt, denn ein jedes Uebel
    vor dem wir bewahrt werden, ist auch eine Wohl=
    that. Doch finde ich, daß des Vaters Hypochon=
    drie immer zunim̄t, seine Ansichten immer bitt=
    rer werden, leider wendet sich diese Bitterkeit
    meist gegen uns, so löst sich dies Verhältniß im̄er
    mehr, jede Offenheit muß schwinden, wenn man
    nur immer mit Aengstlichkeit darauf bedacht
    ist, ihn nicht zu reizen, nicht gegen sich aufzubrin=
    gen; die Gräfinn wird mit jedem Jahre stumpf=
    sinniger, spricht alle seine schon scharfen Mei=
    nungen mit doppelter Schärfe nach, und beför=
    dert, ohne es so böse zu meinen, die Richtung
    in ihm, welche uns so unglücklich macht.) Ich weiß
    nicht worin es liegt, es ist aber, als wäre mit
    dem Scheiden der Mutter6 alles weit schlim̄er
    geworden, und doch wünsche ich sie nicht zurück.

    Kommentare

    5 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 218) folgt eine angezeigte Auslassung der folgenden drei Sätze bis einschließlich „so unglücklich macht“.

    6 Amalia Tieck war am 11. Februar 1837 gestorben.

    Weshalb sollte sie das auch noch empfinden, was
    mich so tief betrübt, und was sie nun im helleren
    Lichte sieht. Wenn ich daran denke, was mein Va=
    ter
    mit seinem großen Geiste für Deutschland
    und für viele7 künftige Geschlechter hätte seyn
    können, wie er durch sein herrliches Gemüth die
    Seinigen hätte beglücken können, so ergreift
    mich bei diesem Gedanken eine Schwermuth, ein
    so tiefer Lebensüberdruß, daß ich schwere
    Kämpfe mit mir selbst durchzumachen habe, um
    das Gleichgewicht nur einigermaßen wieder her=
    zustellen. Wie schrecklich sind die Folgen dieser un=
    natürlichen Verbindung für den armen Vater
    in seinem ganzen Leben gewesen! seine schrift=
    stellerische Laufbahn ist dadurch gehemmt, seine
    schönste Kraft gebrochen worden, sie hat ihn ver=
    hindert sich eine sorgenfreie Existenz zu begrün=
    den, alles häusliche Glück und Familienleben
    für immer zerstört, und welche bittre Früchte
    trägt sie nun seinen Kindern und ihm selbst
    in seinem Alter! Als ich noch für meine gelieb=
    te Mutter leben und schaffen konnte habe ich
    alles dies nicht so scharf empfunden, und meine
    angeborne Heiterkeit kämpfte den trüben
    Vorstellungen entgegen, seitdem ist es aber
    anders, und ich bin im eigentlichen Sinne alt
    geworden. Mein Sinn für das Göttliche hat sich
    erweitert und gestärkt, dort fühle ich mich in
    lichten, wonnevollen Räumen, aber für die
    Welt tauge ich wirklich nicht mehr, um in und mit
    der Welt fortzuleben ist doch einige frische des
    Gefühls und Lebenslust unentbehrlich. Können Sie
    es mir wohl, nach diesen Bekenntnissen noch ver=
    denken, wenn ich ungern schreibe? Ich wünsche

    Kommentare

    7 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 218) fehlt „viele“.

    oft, kein Mensch bekümmerte sich mehr um mich, und
    früge nach mir. Was soll es nutzen? Und nun vor=
    züglich Sie, Sie sind glücklich, und alles was ich Ihnen
    mittheilen kann trübt entweder Ihre Heiterkeit
    oder dünkt Ihnen, was ich noch eher glaube, über=
    trieben und eingebildet.

    Mein Verhältniß mit Agnes ist so schön, wie ich
    es mir nur wünschen kann, nur daß ich sie nicht
    glücklich sehe, ist ein doppelter Schmerz. Sie empfin=
    det alles noch heftiger, was uns beide drückt, und
    es erregt in ihr noch mehr Bitterkeit weil sie
    jünger ist. Ich glaube ich habe alle Liebe, mit der
    ich an der Mutter hing, auf sie übertragen, es
    ist wohl sehr natürlich, daß wir uns lieben, da wir
    so ganz und ausschließend aufeinander ange=
    wiesen sind, mir ist es oft, als lebten wir auf
    einer wüsten Insel miteinander. Die hiesigen Be=
    kannten erzeigen uns viele Freundlichkeit und
    ich bin ihnen auch sehr dankbar dafür, da man
    aber Niemanden in die innern Verhältnisse mag
    blicken lassen, kann auch kein Vertrauen ent=
    stehen, und es bleibt nur ein erheiternder Um=
    gang, was allerdings sehr zu schätzen ist, und
    was wir auch nicht vernachlässigen.

    Sie werden mich ausschelten, theuerster Freund,
    aber ich quäle mich immer mit dem Gedanken,
    die Schwester wird mir auch noch genommen
    werden, weil ich es fühle, wie ich sie zu sehr liebe
    wie es das einzige, aber auch ein mächtiges
    Band ist, was mich noch an die Erde fesselt.
    Um sie zu begleiten, gehe ich, wenn sich die Gele=
    genheit findet, in Gesellschaft, und weil ich dann
    mit ihr darüber sprechen kann, besuche ich flei=
    ßig das Theater, beides erheitert und zer=
    streut mich dann oft. Ja, dies Verhältniß ist
    ganz ungetrübt, und daher mein Glaube, daß es

    2.

    nicht dauern kann. Auch arbeite ich nur deshalb
    so fleißig und suche etwas zu erwerben, weil
    ich denke, es kann ihr vielleicht einmal8 das Leben
    erleichtern. Jetzt kann ich mit Iphigenie sagen:
    Ich habe dir mein tiefstes Herz entdeckt, 9 und
    vielleicht schelten Sie mit Thoas auf die weibliche
    Schwäche. Deshalb bleibe ich immer dabei, es ist
    besser daß solche Briefe ungeschrieben bleiben
    und wie sollte ich Ihnen wohl anders schreiben?
    einen Höflichkeitsbrief, eine abgetragene
    Schuld? das kann ich noch weniger. Schwerlich wird
    ein Mann je begreifen können, welche Kämpfe
    eine Frau zu bestehen hat, die ihren Beruf
    verfehlte, der entweder darin besteht einem
    Hauswesen vorzustehen und für andre zu sor=
    gen, oder sich von der Welt zurück zu ziehen und
    in stiller Verborgenheit zu leben. Ersteres
    war wohl ursprünglich die Bestimmung meiner
    Schwesters, letzteres die meinige. Gott gefiel
    es, uns auf einer rauheren Bahn zu führen,
    und deshalb sollte auch jede Klage verstum̄en.

    Haben Sie denn des Vaters Novelle: Des Le=
    bens Ueberfluß
    , gelesen? und wie gefällt sie
    Ihnen, mir hat sie sehr gefallen. Weniger das
    Liebeswerben, was auch in diesem Jahre erschienen
    ist. Münchhausen lasen wir des Abends gemein=
    schaftlich, Sie haben recht, die zweite Hälfte des
    ersten Theils gehört zu dem schönsten, was ich
    je gelesen habe. Dies Naturgefühl, diese vor=
    treffliche Bauerwirthschaft, und vor allem der Jä=
    ger und das blonde Mädchen. Wie sie vor der
    Blume kniet und er sie betrachtet,10 es ist ein
    Bild, das ich nie vergessen werde. Die erste,
    komische Hälfte hat mich sehr ergötzt und mir
    aber doch nicht so durchgängig gefallen, einiges
    finde ich zu stark, ja geradezu ekelhaft, am

    Kommentare

    8 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 220) steht „mal“.

    9 Goethe: Iphigenie auf Tauris, S. 28 (1. Akt, 3. Szene).

    10 Die Stelle findet sich im 1. Band von Immermanns Münchhausen, S. 413.

    meisten gefiel mir, was keine unmittelbare
    Beziehung hat, z. B. das Volk mit dem lan=
    gen Namen,11 auf dem grünen Plateau und
    den Schippermilchskühen,12 dann der Schulmeister
    wie er sich Schilf aus dem Eurotas schneidet,13
    und die Erklärung wie dem Baron das Kupfer
    in's Blut getreten ist.14 Raupach's Lebensge=
    schichte15 hat mich vergnügt, weil ich seine Stücke
    nicht leiden kann, ich habe mir aber selbst über
    dies16 Vergnügen Vorwürfe gemacht. Sollte ein
    so scharfer, persönlicher Angriff nicht schon zu
    dem Unerlaubten gehören? Wissen Sie denn
    nicht, wann der zweite Theil erscheinen wird?17

    Zur Strafe dafür, daß mein armer Persiles18
    Ihnen nicht mehr gefallen hat, werde ich Ihnen,
    sobald sie vollendet ist, meine Uebersetzung des
    Washington
    19 schicken, und wenn Sie diese lesen,
    was Sie aber nicht thun werden, können Sie
    dabei, in grenzenloser Langeweile alle Ketze=
    reien abbüßen, die sie gegen den him̄lischen
    Cervantes vorgebracht haben; denn für einen
    Dichter scheint mir Ihr Urtheil doch, so viel
    wahres auch daran seyn mag, im Ganzen
    ketzerisch. Während des Sommers habe ich den
    ersten Band dieses weitläufigen Werkes,
    welcher Washingtons Leben enthält,20 übersetzt
    und er wird jetzt gedruckt, im großen Octav,21
    wie die Hohenstaufen, werden es ungefähr 36
    Bogen, den zweiten Band22 füllen dann Briefe
    von Washington und andre Aufsätze, welche sich
    auf ihn beziehen. Im Original sind dies eilf
    Bände, Raumer hatte eine Auswahl in diesen
    vgetroffen, von dem was ich übersetzen sollte,

    Kommentare

    11 Das Volk besaß den langen Namen „Apapurincasiquinitschchiquisaquaner“; vgl. Münchausen, Bd. 1, S. 9.

    12 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 220) steht „Schlippermilchskühen“.

    13 Vgl. Münchausen, Bd. 1, S. 158.

    14 Vgl. Münchausen, Bd. 1, S. 234.

    15 Immermann persifliert Raupach im Münchhausen in der Figur des Wachtfriseurs Isidor Hirsewenzel (Raupach hatte unter dem Pseudonym Lebrecht Hirsemenzel geschrieben); vgl. Münchhausen, Bd. 1, S. 43–59, wo es bspw. heißt: „Als in Isidor der Gedanke an sein verfehltes Daseyn einmal recht zum Durchbruch gekommen war, da rief er aus: Weil Ihr mich im Leben nicht habt zum Leder kommen lassen, so will ich Euch, da ich Euch leider nicht an's Leben selbst kommen kann, wenigstens das Bild des Lebens, die Bühne ruinieren.“ (Ebd., S. 51.)

    16 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 221) steht „das“.

    17 Der zweite Band des Münchhausen erschien, ebenso wie Band drei und vier, 1839.

    18 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 221) steht „Persilas“.

    19 Im Auftrag Friedrich von Raumers fertigte Dorothea Tieck eine auszugsweise Übersetzung der von Jared Sparks verfassten 12-bändigen Washington-Biographie The Life and Writings of George Washington an.

    20 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 221) steht „erhält“.

    21 Das Groß-Oktav besitzt eine Buchrückenhöhe von 22,5–25 cm.

    22 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 221) steht „Theil“.

    im Frühling, als er und Brockhaus hier waren,
    zeigte es sich aber, daß der zweite Band, im
    Verhältniß zum ersten, zu schwach wurde, und
    ich muß nun alle 11 Bände durchlesen, um in
    meiner Uebersetzung aufzunehmen, was mir
    noch merkwürdig scheint. Das ganze Werk23 ist
    von der äußersten Trockenheit, geht in die
    kleinsten Details, und läßt die großen Momen=
    te vorüber gehen, ohne ein Gewicht darauf
    zu legen, aus den Briefen, die ich in meine
    Uebersetzung aufnehme werden Sie urtheilen
    können, wie die sind, welche ich als uninteressant
    weg gelassen habe, es sind Ordres an die Ge=
    nerale, Berichte an den Congreß über Gefan=
    gene, Proviant, Rekruten. Als Quellenstudium
    kann dies Werk von Nutzen seyn, es wird
    aber gewiß nur wenig Leser finden, denn
    es ist zu unkünstlerisch geschrieben, und oft
    so unlogisch und schlecht stylisirt, daß mir
    dadurch die Arbeit schwer wurde, und ich man=
    chen Satz völlig umkehren muß um ihn nur
    verständlich zu machen. Uebrigens scheint mir
    der Verfasser von einer edlen Gesinnung zu
    seyn, und mit Liebe zu seinem Helden gearbei=
    tet zu haben, er hält sich nur zu streng an
    die vorliegenden Documente, und ist der Spra=
    che nicht mächtig. Raumer muß alles verant=
    worten, denn er hat mich eigentlich zu dieser
    Arbeit gezwungen. Ich habe mich eigentlich24
    auf einem mir völlig fremden Meere ohne
    Lotzen eingeschifft, denn als ich die Sache unter=
    nahm versprach mir Raumer, meine Ueberset=
    zung
    durchzulesen, da ich mitten in der Arbeit
    war sagte er aber, das sey zu umständlich
    und mein Manuscript müsse gleich nach Leipzig

    Kommentare

    23 Jared Sparks: The Life and Writings of George Washington.

    24 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 222) fehlt „eigentlich“.

    in den Druck. Ich bin im militairischen und
    dipplomatischen Fach auf tausend Dinge gesto=
    ßen die mir völlig fremd waren, und wo ich
    auch in keinem Lexicon Hülfe fand, es muß nun
    gehen wie es kann, an Mühe habe ich es nicht
    fehlen lassen, und Vater thut mir den Gefal=
    len die Correcturbogen, welche ich mir schicken
    lasse durchzulesen, bei den Kriegsschiffen und
    dem englischen Gelde hatte ich einige Confusion
    angerichtet, sonst ist bis jetzt alles gut ge=
    wesen, der arme Vater seufzt aber im̄er
    sehr, wenn ich ihm einen Bogen bringe. Man
    beklagt mich, wegen dieser trocknen Arbeit,
    hat aber ganz unrecht, denn es giebt wohl we=
    nig Dinge, für die ich mich nicht interessiren
    kann, wenn ich mich ernstlich damit beschäftige
    die Arbeit hat mir Freude gemacht, obgleich
    ich die Fehler des Buches sehr gut erkannte,
    und ich habe Washington so lieb gewonnen,
    daß ich beim Schreiben einen ganzen Vormit=
    tag in Thränen zubrachte, als ich an die Stel=
    le kam, wie er von der Armee Abschied
    nim̄t, eben so ging es mir bei seinem To=
    de. Wenn Sie das Buch auch nicht lesen, müs=
    sen Sie doch etwas darin blättern, um die
    heldenmüthige Ausdauer und Geduld die=
    ses Mannes verehren zu lernen, die man
    wohl noch nie so erkannt hat, wie aus die=
    sem Buche. Der Spruch des weisen Salomo ist
    mir oft eingefallen, daß der, welcher sich selbst
    überwindet größer ist, als wer Städte er=
    obert;25 denn nicht in glänzenden Thaten, sondern
    in einer fortgesetzten Selbstüberwindung liegt

    Kommentare

    25 Vgl. die Sprüche des Salomos im Alten Testament 16,32.

    3.

    seine Größe.

    Wann lassen Sie denn nun endlich einmal
    drucken, theuerster Freund, ich fürchte Sie
    sind zu ängstlich und durch zu vieles Feilen
    kann Ihr Werk an Frische einbüßen.26

    Daß Raumer im Frühling nach Italien
    reist, um wenigstens ein Jahr27 auszublei=
    ben, wissen sSie wohl schon, uns schien die=
    se Reise, auf so lange Zeit und ohne ei=
    gentlichen Zweck, etwas sonderbar, die
    Lüttichau schreibt28 mir aber aus Berlin,
    bei den mannigfachen Kränkungen und
    Zurücksetzungen die er erfahren müsse,
    lasse es sich begreifen. Die Lüttichau
    bringt den ganzen Winter in Berlin bei
    ihrem Vater29 zu, die Mutter30 ist im Früh=
    ling gestorben. Lüttichau macht indessen
    eine große Reise, nach London, Paris
    und Italien, um die ersten Theater
    zu sehen, und Maschinerie und Ausschmück=
    ung des hiesigen danach einzurichten, den̄
    der Bau des neuen Schauspielhauses31 ist
    im Sommer schon ziemlich weit gediehen.
    Wir haben jetzt viel neue Stücke gegeben
    die mittelmäßig, auch wohl schlecht seyn
    mochten, sich aber durch die ganz vollende=
    te Darstellung zu wahren Kunstwerken
    erhoben, daran sieht man, daß die Kunst
    des Schauspielers doch eine selbständige
    ist. Zu diesen Stücken rechne ich mehrere
    von unsrer Prinzeß,32 dann Luise von Lig=
    nerolle
    ,33 aus dem Französischen, und die
    Geschwister
    von Leutner, was von dem

    Kommentare

    26 Im einzigen an Dorothea Tieck überlieferten Brief Uechtritz' von Dezember 1838, Bl. 1 verso berichtet Uechtritz von seiner Arbeit an den beiden dokumentarischen Bänden über das Düsseldorfer Kunst- und Künstlerleben: „Ich selbst habe, seitdem wir uns nicht gesehen, ganze Schubladen voll geschrieben, verworfen und neu ausgeführt, so daß ich nach Verhältniß meines Eifers nun langsam vorgerückt bin. Doch denke ich, soll der erste Band meines Buches bald das Licht der Welt erblicken.“ (Westfälisches Handschriftenarchiv, Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Signatur: Atg. 1991.)

    27 Raumer kehrte bereits am 22. September 1839 aus Italien zurück; vgl. Brief vom 24. September 1839, S. 4 (Bl. 2 verso).

    28 Der Brief ist verschollen.

    29 Karl Christoph Gottlob von Knobelsdorff.

    30 Henriette von Knobelsdorff (geb. von Reppert, verwitw. von Mühlheim).

    31 Unter Gottfried Semper entstand von 1838 bis 1841 der Bau des neuen Königlichen Hoftheaters, der sog. ersten Semperoper, die 1869 bei einem Brand zerstört wurde. Sie ersetzte das seit 1761 bestehende Morettische Hoftheater, welches nach der Fertigstellung des neuen Hoftheaters abgerissen wurde.

    32 Von Amalie von Sachsen wurden 1838 die Lustspiele Der Zögling und Der Majoratserbe uraufgeführt; vgl. Prölß: Geschichte des Hoftheaters zu Dresden, S. 632.

    33 Die Uraufführung von Luise von Lignerolles von Ernest Legouvé, in einer Berabeitung von Theodor Hell, fand am 18. Dezember 1838 statt.

    verstorbenen Prinzen Karl von Meckeln=
    burg
    seyn soll,34 auch ein Stück von dem
    Berliner Devrient, die Verirrungen.35
    Mit den classischen Stücken gelingt es uns
    weniger, der Egmont ist eine durchaus
    schlechte Vorstellung,36 recht gut geht hingegen
    der Macbeth, der vor kurzem wieder war.
    Julius Caesar wird auch von neuem ein=
    studirt.

    Von einem kleinen Amte, was ich ver=
    walte, und was mich vielfach beschäftigt,
    muß ich Ihnen doch auch noch erzählen. Schon
    seit lange gehöre ich zum katholischen Frau=
    enverein, die Mitglieder desselben führen
    die Oberaufsicht über die verschiednen Schu=
    len und Anstalten. Vor länger als einem
    Jahre wurde mir die Aufsicht über die
    kleine katholische Schule in der Friedrich=
    stadt37 übergeben, die fast nur von ganz
    armen Kindern besucht wird. Ich habe nur
    die Handarbeiten zu leiten, und die Leh=
    rerin steht unter mir, ich muß alles ein=
    richten und kaufen was dazu gehört,
    und alle Mittwoch bringe ich dort den gan=
    zen SVormittag zu, und gebe selbst Unter=
    richt im Nähen und Stricken. Zu Weihnach=
    ten
    habe ich auch allen Kindern beschert, meist
    Kleidungsstücke, die ich selbst gearbeitet
    hatte, und das machte mir viel zu thun.
    Der einzig wahre Nutzen, der aus diesen
    Bemühungen hervorgeht, ist, daß ich doch zu=
    weilen Gelegenheit finde, für ganz ver=
    lassene Kinder zu sorgen. Ich habe schon

    Kommentare

    34 „Emanuel Leutner“ war ein Pseudonym von Ernst Raupach. Das Stück wurde am 1. Januar 1839 erstmals in Dresden aufgeführt.

    35 Die Dresdner Erstaufführung der Verirrungen fand am 29. September 1838 statt.

    36 Zur Inszenierung des Egmont vgl. Brief vom 7. Oktober 1835, S. 1 (Bl. 1 recto) und S. 5 (Bl. 3 recto).

    37 Möglicherweise handelte es sich um das Josephinische Mädchenstift in der Dresdner Friedrichstadt.

    mehrere ganz verwahrloste Mädchen bei
    rechtlichen Frauen untergebracht, wo sie ganz
    einfach und nach ihrem Stande erzogen
    werden. Zwar kann ich das nicht alles aus
    eignen Mitteln bestreiten, ich finde aber
    vielfache Unterstützung, und es wird mir
    oft mehr gegeben als ich für den Augen=
    blick brauche. Diese unbedeutende Beschäf=
    tigung hat mich schon oft mit dem Leben
    ausgesöhnt, ich habe dabei viel zu laufen,
    was besonders im Winter gut ist, wo man
    sonst nicht viel aus geht. Ich mache dabei die
    Erfahrung, daß die immer zunehmen=
    de Armuth und das grenzenlose Elend
    doch hauptsächlich aus der großen Ver=
    derbniß der niedren Stände herrührt.
    Die meisten der armen Kinder gehen zu
    Grunde, weil im Hause keine Ordnung
    und Rechtlichkeit ist, und entweder der
    Vater, oder die Mutter, oft auch beide
    ein schlechtes Leben führen. Nicht nur für
    verwaiste Kinder muß man sorgen, viele
    kann man nur dadurch retten, daß man
    sie den Eltern weg nim̄t, die denn auch
    froh sind sie los zu werden, und gar nicht
    einmal fragen, wie es ihnen geht. Daher
    kommt es denn, daß die reichlichen Samm=
    lungen und vielfachen Almosen doch nie aus=
    reichen; denn die Wohlthätigkeit hier bei
    uns ist sehr groß, und man muß bewun=
    dern, wie viel selbst wenig bemittelte
    Familien thun.

    Ueber die religiösen Angelegenheiten wür=
    den wir uns wohl nie ganz vereinigen
    können. Sie glauben in der Mitte38 zu ste=
    hen und haben gewiß die beste Meinung
    verzeihen Sie mir aber wenn ich dießse
    Stellung bezweifle. Sie sind einmal ein
    Protestant, in dieser Ueberzeugung er=
    zogen, und werden es auch bleiben. Sie
    kennen die Kirche nur von außen her,
    nur als etwas Historisches. Nie haben
    Sie die Heiligkeit der Messe, die Kraft
    der Sacramente, die Gemeinschaft der
    Heiligen, die Ue[...] empfunden, selbst
    von der tiefen Bedeutung der hohen christ=
    lichen Feste ist Ihnen nur ein Schatten
    geblieben. Deuten Sie mir diese Aeußerun=
    gen nicht übel und halten Sie mich deshalb
    nicht für intollerant; ich gestehe aber auch
    gern ein, daß ich nicht in der Mitte stehe
    und auch nicht danach strebe. Den Glauben
    an innige dereinstige Vereinigung, die viel=
    leicht durch alle diese traurigen Ereignisse
    eher gefördert als aufgehalten wird, wer=
    de ich nie aufgeben, denn er gehört zu
    meinen heiligsten Ueberzeugungen. Nur
    denke ich mir diese Vereinigung vielleicht
    etwas anders als Sie. Alle diejenigen wel=
    che Gott mit gläubigem Herzen anhangen,
    und die Wahrheit mit Eifer suchen, gehören
    ja zu Seiner Kirche, wenn sie sich auch äußer=
    lich nicht zu ihr bekennen, und der ewige
    Hirt wird sie aufsuchen, erleuchten und
    mit seiner Heerde vereinigen, ob dies
    bald oder später geschieht, kann uns wohl

    Kommentare

    38 Im Brief von Dezember 1838 schreibt Uechtritz: „Wie gern möchte ich mit Ihnen einmal die kirchlichen Wirren, die jezt die Welt spalten, so recht gründlich durchsprechen. Aber eben weil wir uns dabey auf nothwendig verschiednem Standpunkte befinden, könnte das nur mündlich geschehn. Genüther, wie das meine, die sich, wie Lessing sagt, auf den Grenzen der streitenden Partheien angebaut haben und schon von einer möglichen Ausgleichung und Versöhnung träumten, leiden vielleicht am meisten dabey.“ (Westfälisches Handschriftenarchiv, Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Signatur: Atg. 1991, Bl. 1 recto f.)

    4.

    ängstigen und bekümmern, doch der, vor
    welchem tausend Jahre sind wie eEin Tag
    hat von Ewigkeit bestimmt wann und wie
    es geschehen soll, und die Menschen mögen
    thun was sie wollen, sie befördern nur
    Seine Zwecke, auch wenn sie das Gegen=
    theil zu thun scheinen. In diesem Glauben
    kann ich, wie vieles mich auch jetzt betrübt
    ruhig seyn.

    Je mehr sich die äußere Welt vor mir
    verschließt, desto herrlicher erscheint mir
    das kirchliche Leben. Der Umlauf des Kir=
    chenjahres ist wie eine Reihe göttlicher
    Gedichte, immer neue Lichter steigen auf,
    neue Geheimnisse erschließen sich, das dünkt
    mir oft so herrlich, daß ich denke, man be=
    dürfte weiter gar keines Glückes auf
    Erden, ja, man würde sich selbst nicht nach
    dem Tode sehnen, lebte man ungestört
    in diesen Betrachtungen

    Doch nun endlich genug. Ich hatte mich ganz
    davon entwöhnt, mich Ihnen mitzutheilen
    und glaubte auch, es sey so besser, und
    doch hat es mir nun so wohl gethan. Wenn
    Sie mir erst wegen meines langen Schwei=
    gens zürnten, thun Sie es nun vielleicht
    noch mehr, wegen dieses langen Briefes.
    Daß Sie mir beides vergeben, können
    Sie mir am besten dadurch beweisen, daß
    Sie mir recht bald wieder schreiben. 39Sagen
    Sie Ihrer lieben Frau und Schwiegermutter40
    die herzlichsten Grüße von mir, die Vater
    mir auch für Sie aufträgt. Mit unverän=
    derter Freundschaft.

    Ihre Dorothea.

    Kommentare

    39 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 225) folgt eine angezeigte Auslassung bis zum Ende des Briefs.

    40 Elisabeth Wilhelmine Balan (geb. Lecoq).

    Vorgestern, mein theuerster Freund, erhielt ich Ihren Brief,1 den ich wahrlich nicht verdient habe. Denken Sie nicht, daß ich mich entschuldigen werde, ich sage nur peccavi2 und bekenne, daß ich mich selbst ganz schändlich und mein Betragen unverzeihlich finde; doch glauben Sie es mir, wenn Sie es noch nicht wissen sollten: Ein jedes Verbrechen führt die Strafe mit sich, daß habe ich in den Gewissensbissen empfunden, die mich quälten, so oft ich an Sie dachte. Daß Sie böse sind freut mich sehr; denn ich sehe daraus, daß es Ihnen noch nicht ganz gleichgültig ist, ob Sie etwas von mir hören oder nicht, und ich habe bei dieser Gelegenheit die Erfahrung gemacht wie ich doch noch nicht so ganz unempfänglich für die Freude bin, als ich es oft glaube. Daß ich absichtlich nicht geschrieben hätte, weil Sie mich damals so lange warten ließen, kann Ihnen wohl nie im Ernste eingefallen seyn, im Gegentheil nahm ich mir vor, als Ihr lange erwarteter Brief kam, sogleich zu antworten. 3Von Ihren erfreulichen Aussichten hatte ich schon gehört, und mich herzlich darüber gefreut, möge Gott Seinen Segen dazu geben, und Ihnen Allen die Zeit der Sorge und des Leidens glücklich überstehen helfen.4

    Obgleich ich mich nicht entschuldigen wollte, muß ich Ihnen doch im Ernste sagen, weshalb ich so ungern schreibe, und mir oft vornehme es

    Kommentare

    1 Es handelt sich hierbei um den einzigen an Dorothea Tieck überlieferten Brief Uechtritz' von Dezember 1838. (Westfälisches Handschriftenarchiv, Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Signatur: Atg. 1991.)

    2 Lat. ,ich habe gesündigt‘.

    3 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 218) folgt eine unmarkierte Auslassung bis zum Ende des Absatzes.

    4 Es handelt sich bei den „erfreulichen Aussichten“ möglicherweise um eine Schwangerschaft Marie von Uechtritz'. Vgl. den einzigen an Dorothea Tieck überlieferten Brief Uechtritz' von Dezember 1838, Bl. 2 verso: „Meine Frau wird wohl Ihrer Schwester das nähere über die frohen Hoffnungen melden, denen ich mich für das nächste Jahr hingeben darf.“ (Westfälisches Handschriftenarchiv, Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Signatur: Atg. 1991.) Über die Geburt eines Kindes ist jedoch nichts bekannt; die Ehe blieb offiziell kinderlos.

    gar nicht mehr zu thun, und allen Verkehr mit meinen Freunden, oder vielmehr mit Ihnen, denn Sie sind der einzige, den ich wahrhaft so nennen kann, abzubrechen: Ich hätte Ihnen so Vieles zu sagen, was sich so schwer schreiben läßt, und nur so Weniges, das sich für einen Brief eignet. Ich mache mir fast Vorwürfe, über meine Lage und meine Verhältnisse nachzudenken, und möchte mich am liebsten nie darüber aussprechen; Sie sind der Einzige auf der Welt, gegen den ich mir eine Mittheilung erlaube, doch wie viel leichter würde es mir mündlich werden. 5Wer unser Leben so äußerlich mit ansieht, denckt vielleicht es sey recht erträglich, ja sogar angenehm, und doch glaube ich oft darunter erliegen zu müssen. Daß wir alle gesund geblieben habe ich am Schlusse des Jahres mit der innigsten Dankbarkeit gegen Gott erkannt, denn ein jedes Uebel vor dem wir bewahrt werden, ist auch eine Wohlthat. Doch finde ich, daß des Vaters Hypochondrie immer zunimmt, seine Ansichten immer bittrer werden, leider wendet sich diese Bitterkeit meist gegen uns, so löst sich dies Verhältniß immer mehr, jede Offenheit muß schwinden, wenn man nur immer mit Aengstlichkeit darauf bedacht ist, ihn nicht zu reizen, nicht gegen sich aufzubringen; die Gräfinn wird mit jedem Jahre stumpfsinniger, spricht alle seine schon scharfen Meinungen mit doppelter Schärfe nach, und befördert, ohne es so böse zu meinen, die Richtung in ihm, welche uns so unglücklich macht. Ich weiß nicht worin es liegt, es ist aber, als wäre mit dem Scheiden der Mutter6 alles weit schlimmer geworden, und doch wünsche ich sie nicht zurück.

    Kommentare

    5 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 218) folgt eine angezeigte Auslassung der folgenden drei Sätze bis einschließlich „so unglücklich macht“.

    6 Amalia Tieck war am 11. Februar 1837 gestorben.

    Weshalb sollte sie das auch noch empfinden, was mich so tief betrübt, und was sie nun im helleren Lichte sieht. Wenn ich daran denke, was mein Vater mit seinem großen Geiste für Deutschland und für viele7 künftige Geschlechter hätte seyn können, wie er durch sein herrliches Gemüth die Seinigen hätte beglücken können, so ergreift mich bei diesem Gedanken eine Schwermuth, ein so tiefer Lebensüberdruß, daß ich schwere Kämpfe mit mir selbst durchzumachen habe, um das Gleichgewicht nur einigermaßen wieder herzustellen. Wie schrecklich sind die Folgen dieser unnatürlichen Verbindung für den armen Vater in seinem ganzen Leben gewesen! seine schriftstellerische Laufbahn ist dadurch gehemmt, seine schönste Kraft gebrochen worden, sie hat ihn verhindert sich eine sorgenfreie Existenz zu begründen, alles häusliche Glück und Familienleben für immer zerstört, und welche bittre Früchte trägt sie nun seinen Kindern und ihm selbst in seinem Alter! Als ich noch für meine geliebte Mutter leben und schaffen konnte habe ich alles dies nicht so scharf empfunden, und meine angeborne Heiterkeit kämpfte den trüben Vorstellungen entgegen, seitdem ist es aber anders, und ich bin im eigentlichen Sinne alt geworden. Mein Sinn für das Göttliche hat sich erweitert und gestärkt, dort fühle ich mich in lichten, wonnevollen Räumen, aber für die Welt tauge ich wirklich nicht mehr, um in und mit der Welt fortzuleben ist doch einige frische des Gefühls und Lebenslust unentbehrlich. Können Sie es mir wohl, nach diesen Bekenntnissen noch verdenken, wenn ich ungern schreibe? Ich wünsche

    Kommentare

    7 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 218) fehlt „viele“.

    oft, kein Mensch bekümmerte sich mehr um mich, und früge nach mir. Was soll es nutzen? Und nun vorzüglich Sie, Sie sind glücklich, und alles was ich Ihnen mittheilen kann trübt entweder Ihre Heiterkeit oder dünkt Ihnen, was ich noch eher glaube, übertrieben und eingebildet.

    Mein Verhältniß mit Agnes ist so schön, wie ich es mir nur wünschen kann, nur daß ich sie nicht glücklich sehe, ist ein doppelter Schmerz. Sie empfindet alles noch heftiger, was uns beide drückt, und es erregt in ihr noch mehr Bitterkeit weil sie jünger ist. Ich glaube ich habe alle Liebe, mit der ich an der Mutter hing, auf sie übertragen, es ist wohl sehr natürlich, daß wir uns lieben, da wir so ganz und ausschließend aufeinander angewiesen sind, mir ist es oft, als lebten wir auf einer wüsten Insel miteinander. Die hiesigen Bekannten erzeigen uns viele Freundlichkeit und ich bin ihnen auch sehr dankbar dafür, da man aber Niemanden in die innern Verhältnisse mag blicken lassen, kann auch kein Vertrauen entstehen, und es bleibt nur ein erheiternder Umgang, was allerdings sehr zu schätzen ist, und was wir auch nicht vernachlässigen.

    Sie werden mich ausschelten, theuerster Freund, aber ich quäle mich immer mit dem Gedanken, die Schwester wird mir auch noch genommen werden, weil ich es fühle, wie ich sie zu sehr liebe wie es das einzige, aber auch ein mächtiges Band ist, was mich noch an die Erde fesselt. Um sie zu begleiten, gehe ich, wenn sich die Gelegenheit findet, in Gesellschaft, und weil ich dann mit ihr darüber sprechen kann, besuche ich fleißig das Theater, beides erheitert und zerstreut mich dann oft. Ja, dies Verhältniß ist ganz ungetrübt, und daher mein Glaube, daß es

    nicht dauern kann. Auch arbeite ich nur deshalb so fleißig und suche etwas zu erwerben, weil ich denke, es kann ihr vielleicht einmal8 das Leben erleichtern. Jetzt kann ich mit Iphigenie sagen: Ich habe dir mein tiefstes Herz entdeckt, 9 und vielleicht schelten Sie mit Thoas auf die weibliche Schwäche. Deshalb bleibe ich immer dabei, es ist besser daß solche Briefe ungeschrieben bleiben und wie sollte ich Ihnen wohl anders schreiben? einen Höflichkeitsbrief, eine abgetragene Schuld? das kann ich noch weniger. Schwerlich wird ein Mann je begreifen können, welche Kämpfe eine Frau zu bestehen hat, die ihren Beruf verfehlte, der entweder darin besteht einem Hauswesen vorzustehen und für andre zu sorgen, oder sich von der Welt zurück zu ziehen und in stiller Verborgenheit zu leben. Ersteres war wohl ursprünglich die Bestimmung meiner Schwester, letzteres die meinige. Gott gefiel es, uns auf einer rauheren Bahn zu führen, und deshalb sollte auch jede Klage verstummen.

    Haben Sie denn des Vaters Novelle: Des Lebens Ueberfluß, gelesen? und wie gefällt sie Ihnen, mir hat sie sehr gefallen. Weniger das Liebeswerben, was auch in diesem Jahre erschienen ist. Münchhausen lasen wir des Abends gemeinschaftlich, Sie haben recht, die zweite Hälfte des ersten Theils gehört zu dem schönsten, was ich je gelesen habe. Dies Naturgefühl, diese vortreffliche Bauerwirthschaft, und vor allem der Jäger und das blonde Mädchen. Wie sie vor der Blume kniet und er sie betrachtet,10 es ist ein Bild, das ich nie vergessen werde. Die erste, komische Hälfte hat mich sehr ergötzt mir aber doch nicht so durchgängig gefallen, einiges finde ich zu stark, ja geradezu ekelhaft, am

    Kommentare

    8 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 220) steht „mal“.

    9 Goethe: Iphigenie auf Tauris, S. 28 (1. Akt, 3. Szene).

    10 Die Stelle findet sich im 1. Band von Immermanns Münchhausen, S. 413.

    meisten gefiel mir, was keine unmittelbare Beziehung hat, zum Beispiel das Volk mit dem langen Namen,11 auf dem grünen Plateau und den Schippermilchskühen,12 dann der Schulmeister wie er sich Schilf aus dem Eurotas schneidet,13 und die Erklärung wie dem Baron das Kupfer in's Blut getreten ist.14 Raupach's Lebensgeschichte15 hat mich vergnügt, weil ich seine Stücke nicht leiden kann, ich habe mir aber selbst über dies16 Vergnügen Vorwürfe gemacht. Sollte ein so scharfer, persönlicher Angriff nicht schon zu dem Unerlaubten gehören? Wissen Sie denn nicht, wann der zweite Theil erscheinen wird?17

    Zur Strafe dafür, daß mein armer Persiles18 Ihnen nicht mehr gefallen hat, werde ich Ihnen, sobald sie vollendet ist, meine Uebersetzung des Washington19 schicken, und wenn Sie diese lesen, was Sie aber nicht thun werden, können Sie dabei, in grenzenloser Langeweile alle Ketzereien abbüßen, die sie gegen den himmlischen Cervantes vorgebracht haben; denn für einen Dichter scheint mir Ihr Urtheil doch, so viel wahres auch daran seyn mag, im Ganzen ketzerisch. Während des Sommers habe ich den ersten Band dieses weitläufigen Werkes, welcher Washingtons Leben enthält,20 übersetzt und er wird jetzt gedruckt, im großen Octav,21 wie die Hohenstaufen, werden es ungefähr 36 Bogen, den zweiten Band22 füllen dann Briefe von Washington und andre Aufsätze, welche sich auf ihn beziehen. Im Original sind dies eilf Bände, Raumer hatte eine Auswahl in diesen getroffen, von dem was ich übersetzen sollte,

    Kommentare

    11 Das Volk besaß den langen Namen „Apapurincasiquinitschchiquisaquaner“; vgl. Münchausen, Bd. 1, S. 9.

    12 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 220) steht „Schlippermilchskühen“.

    13 Vgl. Münchausen, Bd. 1, S. 158.

    14 Vgl. Münchausen, Bd. 1, S. 234.

    15 Immermann persifliert Raupach im Münchhausen in der Figur des Wachtfriseurs Isidor Hirsewenzel (Raupach hatte unter dem Pseudonym Lebrecht Hirsemenzel geschrieben); vgl. Münchhausen, Bd. 1, S. 43–59, wo es bspw. heißt: „Als in Isidor der Gedanke an sein verfehltes Daseyn einmal recht zum Durchbruch gekommen war, da rief er aus: Weil Ihr mich im Leben nicht habt zum Leder kommen lassen, so will ich Euch, da ich Euch leider nicht an's Leben selbst kommen kann, wenigstens das Bild des Lebens, die Bühne ruinieren.“ (Ebd., S. 51.)

    16 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 221) steht „das“.

    17 Der zweite Band des Münchhausen erschien, ebenso wie Band drei und vier, 1839.

    18 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 221) steht „Persilas“.

    19 Im Auftrag Friedrich von Raumers fertigte Dorothea Tieck eine auszugsweise Übersetzung der von Jared Sparks verfassten 12-bändigen Washington-Biographie The Life and Writings of George Washington an.

    20 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 221) steht „erhält“.

    21 Das Groß-Oktav besitzt eine Buchrückenhöhe von 22,5–25 cm.

    22 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 221) steht „Theil“.

    im Frühling, als er und Brockhaus hier waren, zeigte es sich aber, daß der zweite Band, im Verhältniß zum ersten, zu schwach wurde, und ich muß nun alle 11 Bände durchlesen, um in meiner Uebersetzung aufzunehmen, was mir noch merkwürdig scheint. Das ganze Werk23 ist von der äußersten Trockenheit, geht in die kleinsten Details, und läßt die großen Momente vorüber gehen, ohne ein Gewicht darauf zu legen, aus den Briefen, die ich in meine Uebersetzung aufnehme werden Sie urtheilen können, wie die sind, welche ich als uninteressant weg gelassen habe, es sind Ordres an die Generale, Berichte an den Congreß über Gefangene, Proviant, Rekruten. Als Quellenstudium kann dies Werk von Nutzen seyn, es wird aber gewiß nur wenig Leser finden, denn es ist zu unkünstlerisch geschrieben, und oft so unlogisch und schlecht stylisirt, daß mir dadurch die Arbeit schwer wurde, und ich manchen Satz völlig umkehren muß um ihn nur verständlich zu machen. Uebrigens scheint mir der Verfasser von einer edlen Gesinnung zu seyn, und mit Liebe zu seinem Helden gearbeitet zu haben, er hält sich nur zu streng an die vorliegenden Documente, und ist der Sprache nicht mächtig. Raumer muß alles verantworten, denn er hat mich eigentlich zu dieser Arbeit gezwungen. Ich habe mich eigentlich24 auf einem mir völlig fremden Meere ohne Lotzen eingeschifft, denn als ich die Sache unternahm versprach mir Raumer, meine Uebersetzung durchzulesen, da ich mitten in der Arbeit war sagte er aber, das sey zu umständlich und mein Manuscript müsse gleich nach Leipzig

    Kommentare

    23 Jared Sparks: The Life and Writings of George Washington.

    24 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 222) fehlt „eigentlich“.

    in den Druck. Ich bin im militairischen und dipplomatischen Fach auf tausend Dinge gestoßen die mir völlig fremd waren, und wo ich auch in keinem Lexicon Hülfe fand, es muß nun gehen wie es kann, an Mühe habe ich es nicht fehlen lassen, und Vater thut mir den Gefallen die Correcturbogen, welche ich mir schicken lasse durchzulesen, bei den Kriegsschiffen und dem englischen Gelde hatte ich einige Confusion angerichtet, sonst ist bis jetzt alles gut gewesen, der arme Vater seufzt aber immer sehr, wenn ich ihm einen Bogen bringe. Man beklagt mich, wegen dieser trocknen Arbeit, hat aber ganz unrecht, denn es giebt wohl wenig Dinge, für die ich mich nicht interessiren kann, wenn ich mich ernstlich damit beschäftige die Arbeit hat mir Freude gemacht, obgleich ich die Fehler des Buches sehr gut erkannte, und ich habe Washington so lieb gewonnen, daß ich beim Schreiben einen ganzen Vormittag in Thränen zubrachte, als ich an die Stelle kam, wie er von der Armee Abschied nimmt, eben so ging es mir bei seinem Tode. Wenn Sie das Buch auch nicht lesen, müssen Sie doch etwas darin blättern, um die heldenmüthige Ausdauer und Geduld dieses Mannes verehren zu lernen, die man wohl noch nie so erkannt hat, wie aus diesem Buche. Der Spruch des weisen Salomo ist mir oft eingefallen, daß der, welcher sich selbst überwindet größer ist, als wer Städte erobert;25 denn nicht in glänzenden Thaten, sondern in einer fortgesetzten Selbstüberwindung liegt

    Kommentare

    25 Vgl. die Sprüche des Salomos im Alten Testament 16,32.

    seine Größe.

    Wann lassen Sie denn nun endlich einmal drucken, theuerster Freund, ich fürchte Sie sind zu ängstlich und durch zu vieles Feilen kann Ihr Werk an Frische einbüßen.26

    Daß Raumer im Frühling nach Italien reist, um wenigstens ein Jahr27 auszubleiben, wissen Sie wohl schon, uns schien diese Reise, auf so lange Zeit und ohne eigentlichen Zweck, etwas sonderbar, die Lüttichau schreibt28 mir aber aus Berlin, bei den mannigfachen Kränkungen und Zurücksetzungen die er erfahren müsse, lasse es sich begreifen. Die Lüttichau bringt den ganzen Winter in Berlin bei ihrem Vater29 zu, die Mutter30 ist im Frühling gestorben. Lüttichau macht indessen eine große Reise, nach London, Paris und Italien, um die ersten Theater zu sehen, und Maschinerie und Ausschmückung des hiesigen danach einzurichten, denn der Bau des neuen Schauspielhauses31 ist im Sommer schon ziemlich weit gediehen. Wir haben jetzt viel neue Stücke gegeben die mittelmäßig, auch wohl schlecht seyn mochten, sich aber durch die ganz vollendete Darstellung zu wahren Kunstwerken erhoben, daran sieht man, daß die Kunst des Schauspielers doch eine selbständige ist. Zu diesen Stücken rechne ich mehrere von unsrer Prinzeß,32 dann Luise von Lignerolle,33 aus dem Französischen, und die Geschwister von Leutner, was von dem

    Kommentare

    26 Im einzigen an Dorothea Tieck überlieferten Brief Uechtritz' von Dezember 1838, Bl. 1 verso berichtet Uechtritz von seiner Arbeit an den beiden dokumentarischen Bänden über das Düsseldorfer Kunst- und Künstlerleben: „Ich selbst habe, seitdem wir uns nicht gesehen, ganze Schubladen voll geschrieben, verworfen und neu ausgeführt, so daß ich nach Verhältniß meines Eifers nun langsam vorgerückt bin. Doch denke ich, soll der erste Band meines Buches bald das Licht der Welt erblicken.“ (Westfälisches Handschriftenarchiv, Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Signatur: Atg. 1991.)

    27 Raumer kehrte bereits am 22. September 1839 aus Italien zurück; vgl. Brief vom 24. September 1839, S. 4 (Bl. 2 verso).

    28 Der Brief ist verschollen.

    29 Karl Christoph Gottlob von Knobelsdorff.

    30 Henriette von Knobelsdorff (geb. von Reppert, verwitw. von Mühlheim).

    31 Unter Gottfried Semper entstand von 1838 bis 1841 der Bau des neuen Königlichen Hoftheaters, der sog. ersten Semperoper, die 1869 bei einem Brand zerstört wurde. Sie ersetzte das seit 1761 bestehende Morettische Hoftheater, welches nach der Fertigstellung des neuen Hoftheaters abgerissen wurde.

    32 Von Amalie von Sachsen wurden 1838 die Lustspiele Der Zögling und Der Majoratserbe uraufgeführt; vgl. Prölß: Geschichte des Hoftheaters zu Dresden, S. 632.

    33 Die Uraufführung von Luise von Lignerolles von Ernest Legouvé, in einer Berabeitung von Theodor Hell, fand am 18. Dezember 1838 statt.

    verstorbenen Prinzen Karl von Meckelnburg seyn soll,34 auch ein Stück von dem Berliner Devrient, die Verirrungen.35 Mit den classischen Stücken gelingt es uns weniger, der Egmont ist eine durchaus schlechte Vorstellung,36 recht gut geht hingegen der Macbeth, der vor kurzem wieder war. Julius Caesar wird auch von neuem einstudirt.

    Von einem kleinen Amte, was ich verwalte, und was mich vielfach beschäftigt, muß ich Ihnen doch auch noch erzählen. Schon seit lange gehöre ich zum katholischen Frauenverein, die Mitglieder desselben führen die Oberaufsicht über die verschiednen Schulen und Anstalten. Vor länger als einem Jahre wurde mir die Aufsicht über die kleine katholische Schule in der Friedrichstadt37 übergeben, die fast nur von ganz armen Kindern besucht wird. Ich habe nur die Handarbeiten zu leiten, und die Lehrerin steht unter mir, ich muß alles einrichten und kaufen was dazu gehört, und alle Mittwoch bringe ich dort den ganzen Vormittag zu, und gebe selbst Unterricht im Nähen und Stricken. Zu Weihnachten habe ich auch allen Kindern beschert, meist Kleidungsstücke, die ich selbst gearbeitet hatte, und das machte mir viel zu thun. Der einzig wahre Nutzen, der aus diesen Bemühungen hervorgeht, ist, daß ich doch zuweilen Gelegenheit finde, für ganz verlassene Kinder zu sorgen. Ich habe schon

    Kommentare

    34 „Emanuel Leutner“ war ein Pseudonym von Ernst Raupach. Das Stück wurde am 1. Januar 1839 erstmals in Dresden aufgeführt.

    35 Die Dresdner Erstaufführung der Verirrungen fand am 29. September 1838 statt.

    36 Zur Inszenierung des Egmont vgl. Brief vom 7. Oktober 1835, S. 1 (Bl. 1 recto) und S. 5 (Bl. 3 recto).

    37 Möglicherweise handelte es sich um das Josephinische Mädchenstift in der Dresdner Friedrichstadt.

    mehrere ganz verwahrloste Mädchen bei rechtlichen Frauen untergebracht, wo sie ganz einfach und nach ihrem Stande erzogen werden. Zwar kann ich das nicht alles aus eignen Mitteln bestreiten, ich finde aber vielfache Unterstützung, und es wird mir oft mehr gegeben als ich für den Augenblick brauche. Diese unbedeutende Beschäftigung hat mich schon oft mit dem Leben ausgesöhnt, ich habe dabei viel zu laufen, was besonders im Winter gut ist, wo man sonst nicht viel aus geht. Ich mache dabei die Erfahrung, daß die immer zunehmende Armuth und das grenzenlose Elend doch hauptsächlich aus der großen Verderbniß der niedren Stände herrührt. Die meisten der armen Kinder gehen zu Grunde, weil im Hause keine Ordnung und Rechtlichkeit ist, und entweder der Vater, oder die Mutter, oft auch beide ein schlechtes Leben führen. Nicht nur für verwaiste Kinder muß man sorgen, viele kann man nur dadurch retten, daß man sie den Eltern weg nimmt, die denn auch froh sind sie los zu werden, und gar nicht einmal fragen, wie es ihnen geht. Daher kommt es denn, daß die reichlichen Sammlungen und vielfachen Almosen doch nie ausreichen; denn die Wohlthätigkeit hier bei uns ist sehr groß, und man muß bewundern, wie viel selbst wenig bemittelte Familien thun.

    Ueber die religiösen Angelegenheiten würden wir uns wohl nie ganz vereinigen können. Sie glauben in der Mitte38 zu stehen und haben gewiß die beste Meinung verzeihen Sie mir aber wenn ich diese Stellung bezweifle. Sie sind einmal ein Protestant, in dieser Ueberzeugung erzogen, und werden es auch bleiben. Sie kennen die Kirche nur von außen her, nur als etwas Historisches. Nie haben Sie die Heiligkeit der Messe, die Kraft der Sacramente, die Gemeinschaft der Heiligen empfunden, selbst von der tiefen Bedeutung der hohen christlichen Feste ist Ihnen nur ein Schatten geblieben. Deuten Sie mir diese Aeußerungen nicht übel und halten Sie mich deshalb nicht für intollerant; ich gestehe aber auch gern ein, daß ich nicht in der Mitte stehe und auch nicht danach strebe. Den Glauben an innige dereinstige Vereinigung, die vielleicht durch alle diese traurigen Ereignisse eher gefördert als aufgehalten wird, werde ich nie aufgeben, denn er gehört zu meinen heiligsten Ueberzeugungen. Nur denke ich mir diese Vereinigung vielleicht etwas anders als Sie. Alle diejenigen welche Gott mit gläubigem Herzen anhangen, und die Wahrheit mit Eifer suchen, gehören ja zu Seiner Kirche, wenn sie sich auch äußerlich nicht zu ihr bekennen, und der ewige Hirt wird sie aufsuchen, erleuchten und mit seiner Heerde vereinigen, ob dies bald oder später geschieht, kann uns wohl

    Kommentare

    38 Im Brief von Dezember 1838 schreibt Uechtritz: „Wie gern möchte ich mit Ihnen einmal die kirchlichen Wirren, die jezt die Welt spalten, so recht gründlich durchsprechen. Aber eben weil wir uns dabey auf nothwendig verschiednem Standpunkte befinden, könnte das nur mündlich geschehn. Genüther, wie das meine, die sich, wie Lessing sagt, auf den Grenzen der streitenden Partheien angebaut haben und schon von einer möglichen Ausgleichung und Versöhnung träumten, leiden vielleicht am meisten dabey.“ (Westfälisches Handschriftenarchiv, Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Signatur: Atg. 1991, Bl. 1 recto f.)

    ängstigen und bekümmern, doch der, vor welchem tausend Jahre sind wie Ein Tag hat von Ewigkeit bestimmt wann und wie es geschehen soll, und die Menschen mögen thun was sie wollen, sie befördern nur Seine Zwecke, auch wenn sie das Gegentheil zu thun scheinen. In diesem Glauben kann ich, wie vieles mich auch jetzt betrübt ruhig seyn.

    Je mehr sich die äußere Welt vor mir verschließt, desto herrlicher erscheint mir das kirchliche Leben. Der Umlauf des Kirchenjahres ist wie eine Reihe göttlicher Gedichte, immer neue Lichter steigen auf, neue Geheimnisse erschließen sich, das dünkt mir oft so herrlich, daß ich denke, man bedürfte weiter gar keines Glückes auf Erden, ja, man würde sich selbst nicht nach dem Tode sehnen, lebte man ungestört in diesen Betrachtungen

    Doch nun endlich genug. Ich hatte mich ganz davon entwöhnt, mich Ihnen mitzutheilen und glaubte auch, es sey so besser, und doch hat es mir nun so wohl gethan. Wenn Sie mir erst wegen meines langen Schweigens zürnten, thun Sie es nun vielleicht noch mehr, wegen dieses langen Briefes. Daß Sie mir beides vergeben, können Sie mir am besten dadurch beweisen, daß Sie mir recht bald wieder schreiben. 39Sagen Sie Ihrer lieben Frau und Schwiegermutter40 die herzlichsten Grüße von mir, die Vater mir auch für Sie aufträgt. Mit unveränderter Freundschaft. Ihre Dorothea.

    Kommentare

    39 Bei Sybel: Erinnerungen (S. 225) folgt eine angezeigte Auslassung bis zum Ende des Briefs.

    40 Elisabeth Wilhelmine Balan (geb. Lecoq).