
Staatsbibliothek zu Berlin / Handschriftenabteilung
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Tieck an Raumer
Geliebter Freund, Wenn ich Ihre Briefe wieder einmal durch=
sehe, so fühle ich mich beschämt, denn auch die
kleinen enthalten so viel Sinn und Verstand,
manchmal Tiefsinn und Philosophie, daß meine
abgequälten Improvisationen dagegen einen
recht traurigen Abstich bilden. Darum kann ich
Ihnen auch nicht auf diese vielfachen und weit=
greifenden Gedanken irgend etwas antworten:
man ist selbst im Gespräch nicht immer fähig, dergleichen
tiefsinnige Abhandlungen fortzusetzen, oder ihnen
etwas zu entgegnen.. Ich kann also nur danken,
so oft Sie mich eines solchen Ergusses Ihrer Laune
oder Ihrer Betrachtung würdigen. Ich lese, ich nasche
oft an diesen denkwürdigen Fragmenten, und er=
staune eben so über Ihren Fleiß, wenn ich dabei
an alle Ihre Arbeiten denke, wie über diese
Gabe, sich sogleich in die Stimmung zu versetzen,
oder dieser (was noch grösser ist) entbehren zu
können. Hätte ich mich doch so erziehen können!
War es unmöglich, oder fehlte es mir an Kraft,
und gab ich, schwächlich, meiner Trägheit und meiner
Lust an Träumerei zu willig nach? Nur freilich,
aus diesen Träumerien, scheinbarem Müssiggang,
ist doch wieder mein Ich, Charakter, Arbeit[...], Eigen=
thümlichkeit, hervor gegangen.
Liebster Freund: mit unserm Tristram1 bleiben
Sie im Unrecht. Ich habe das herrliche, naive,
unschuldige Gedicht nun wieder mit der Gräfinn
sehr aufmerksam gelesen; immer nur 1000
kleine Verse etwa: und wir hatten gemeinsam
Freude an dem Werk, Rührung, Lächeln; manche
Stellen las ich zweimal: aber nirgend tauchte
in uns, selbst in scharfer Beobachtung, der leiseste
moralische Unwille auf. Mark ist ein guter
Mann, was man so nennt, ohne allen Charakter,
fast komisch, immer dem Rath, aller Welt sein
heusl. Unglück mittheilend; bald zornig, bald
ohne Ursach versöhnt: die kleine Beimischung des
Komischen ist ihm nothwendig, um eine gelinde
poetische Schadenfreude über seine Begegnisse
zu erregen. Sie wissen ja, daß sich bei dem viel
schlimmren George Dandin meine Moral auch
nicht in Bewegung sezt, sondern nur meine Lach=
fertigkeit. In dieser Region mag also unser Gefühl
von ganz verschiedener Art sein. Sie müssen das
in mir, wie so Vieles übertragen: ob ich gleich
die Ueberzeugung nicht aufgeben kann, daß sich
diese scheinbaren Verletzungen der Moral aus
dem poetischen Gefühl durchaus rechtfertigen
lassen.
1 Tieck besaß nachweislich (vgl. Asher 1849, Position 488 und 489) zwei Ausgaben der Geschichte von Tristan und Isolde, auf die er sich hier beziehen könnte: eine von Eberhard von Groote (Tristan, Berlin 1821) sowie eine von Friedrich Heinrich von der Hagen herausgegebene (Tristan und Isolde, Breslau 1823). Beide Editionen kombinieren die Fragmente nach Gottfried von Straßburg und Ulrich von Türheim.
Ich habe seitdem wieder eine kleine leichte
Novelle, „Abendunterhaltung“ geschrieben, die Agnes
u Dorothea mißfallen, der Gräfinn u andern ge=
fallen hat. Das ganz Leichte muß nicht von der
Unterhaltung ausgeschlossen werden. Eine „Glocke
v. Arragon“ habe angefangen: gewissermassen Fort=
setzung des Wassermenschen. Mein Schutzgeist
hat Ihnen damals nicht sonderlich gefallen, darum
wollte ich auch die Vorlesung nicht wiederholen.
Tausend Dank für die ächten, wahren, ge=würzhaften Tel. Rübchen. Ich vermuthe, daß der Dank für die Mühe hauptsächl. Ihrer treflichen Frau ge=bührt. Aber Sie haben es doch besorgt. Sie weisen der Gräfinn wohl an, wie viel sie [diesmal] an die Solger zu zahlen hat. –
Ein junger Virtuos auf der Guitarre, Herr Pique überbringt Ihnen dies Blatt. Er verrichtet Wunder auf dem beschränkten Instrument. Viel=leicht können Sie ihm zu einigen Bekanntschaften verhelfen. Er ist ein hübscher, bescheidner junger Man̄, u geht nach Petersburg. – Wie geht es mit Solger? Ich fürchte sehr, ja ich bin überzeugt, er ist un=heilbar. – Wir sind Alle leidlich wohl, grüssen Alle herzlich u sprechen täglich von Ihnen.
An den Herrn
Regierungs Rath und Professor
Fried. von Raumer
Hochwohlgebohren
Berlin
Kochstrasse.
d. G.
Wenn ich Ihre Briefe wieder einmal durchsehe, so fühle ich mich beschämt, denn auch die kleinen enthalten so viel Sinn und Verstand, manchmal Tiefsinn und Philosophie, daß meine abgequälten Improvisationen dagegen einen recht traurigen Abstich bilden. Darum kann ich Ihnen auch nicht auf diese vielfachen und weitgreifenden Gedanken irgend etwas antworten: man ist selbst im Gespräch nicht immer fähig, dergleichen tiefsinnige Abhandlungen fortzusetzen, oder ihnen etwas zu entgegnen.. Ich kann also nur danken, so oft Sie mich eines solchen Ergusses Ihrer Laune oder Ihrer Betrachtung würdigen. Ich lese, ich nasche oft an diesen denkwürdigen Fragmenten, und erstaune eben so über Ihren Fleiß, wenn ich dabei an alle Ihre Arbeiten denke, wie über diese Gabe, sich sogleich in die Stimmung zu versetzen, oder dieser (was noch grösser ist) entbehren zu können. Hätte ich mich doch so erziehen können! War es unmöglich, oder fehlte es mir an Kraft, und gab ich, schwächlich, meiner Trägheit und meiner Lust an Träumerei zu willig nach? Nur freilich, aus diesen Träumerien, scheinbarem Müssiggang, ist doch wieder mein Ich, Charakter, Arbeit, Eigenthümlichkeit, hervor gegangen.
Liebster Freund: mit unserm Tristram1 bleiben Sie im Unrecht. Ich habe das herrliche, naive, unschuldige Gedicht nun wieder mit der Gräfinn sehr aufmerksam gelesen; immer nur 1000 kleine Verse etwa: und wir hatten gemeinsam Freude an dem Werk, Rührung, Lächeln; manche Stellen las ich zweimal: aber nirgend tauchte in uns, selbst in scharfer Beobachtung, der leiseste moralische Unwille auf. Mark ist ein guter Mann, was man so nennt, ohne allen Charakter, fast komisch, immer dem Rath, aller Welt sein heusliches Unglück mittheilend; bald zornig, bald ohne Ursach versöhnt: die kleine Beimischung des Komischen ist ihm nothwendig, um eine gelinde poetische Schadenfreude über seine Begegnisse zu erregen. Sie wissen ja, daß sich bei dem viel schlimmren George Dandin meine Moral auch nicht in Bewegung sezt, sondern nur meine Lachfertigkeit. In dieser Region mag also unser Gefühl von ganz verschiedener Art sein. Sie müssen das in mir, wie so Vieles übertragen: ob ich gleich die Ueberzeugung nicht aufgeben kann, daß sich diese scheinbaren Verletzungen der Moral aus dem poetischen Gefühl durchaus rechtfertigen lassen.
1 Tieck besaß nachweislich (vgl. Asher 1849, Position 488 und 489) zwei Ausgaben der Geschichte von Tristan und Isolde, auf die er sich hier beziehen könnte: eine von Eberhard von Groote (Tristan, Berlin 1821) sowie eine von Friedrich Heinrich von der Hagen herausgegebene (Tristan und Isolde, Breslau 1823). Beide Editionen kombinieren die Fragmente nach Gottfried von Straßburg und Ulrich von Türheim.
Ich habe seitdem wieder eine kleine leichte Novelle, „Abendunterhaltung“ geschrieben, die Agnes und Dorothea mißfallen, der Gräfinn und andern gefallen hat. Das ganz Leichte muß nicht von der Unterhaltung ausgeschlossen werden. Eine „Glocke von Arragon“ habe angefangen: gewissermassen Fortsetzung des Wassermenschen. Mein Schutzgeist hat Ihnen damals nicht sonderlich gefallen, darum wollte ich auch die Vorlesung nicht wiederholen.
Tausend Dank für die ächten, wahren, gewürzhaften Teltower Rübchen. Ich vermuthe, daß der Dank für die Mühe hauptsächlich Ihrer treflichen Frau gebührt. Aber Sie haben es doch besorgt. Sie weisen der Gräfinn wohl an, wie viel sie [diesmal] an die Solger zu zahlen hat. –
Ein junger Virtuos auf der Guitarre, Herr Pique überbringt Ihnen dies Blatt. Er verrichtet Wunder auf dem beschränkten Instrument. Vielleicht können Sie ihm zu einigen Bekanntschaften verhelfen. Er ist ein hübscher, bescheidner junger Mann, und geht nach Petersburg. – Wie geht es mit Solger? Ich fürchte sehr, ja ich bin überzeugt, er ist unheilbar. – Wir sind Alle leidlich wohl, grüssen Alle herzlich und sprechen täglich von Ihnen.
Auf Wiedersehn! recht bald! Wenden Sie wieder eine halbe Stunde an Ihren Ludwig Tieck. Dresden den 15ten November 1838. An den Herrn
Regierungs Rath und Professor
Friedrich von Raumer
Hochwohlgebohren
Berlin
Kochstrasse.
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