
Jagiellonen-Universität Krakau / Universitätsbibliothek
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Zwischen d 4 -7 Junius, u während in Schlesien Bluth
floß,1 wurde der Brief geschrieben, den Sie gedruckt in einem
Ihnen zugeeingneten Werke bekom̄en hätten, doch H. Sgouta
hat eine Gelegenheit nach Berlin, u so übertrag ich
ihm eine Botschaft, u hoffe daß dies Entgegen kom̄en
auf gleichem Weg Bettina willkom̄en ist, das Buch,
dem dieser Brief gleichsam als Zueignung vorsteht,
erfüllt einen großen Theil Ihrer Aufforderung,
die in den Zeitungen stand, u die im Brief der Gunderode
gedrängt wiederholt ist: Wo ist die Noth? woher die Noth?
u. s. w.2 Der Titel heißt: Dies Buch gehört Bettinen.3
Wie ahnungsvoll ist der Brief der Günderode!
Wie durchweht von den letzten Seufzern der Opfer
in Schlesien! Liebes gutes Schlesien! Meiner
Großmutter und Mutter Heimath!4
Otto Lüning, so sagen die Zeitungen, hat
wegen des Buches, das dem Volke gehört, viel
garstige Unannehmlichkeiten erfahren,5 die Zeitungen sagen, Sie würden die Beweis=
stücke wegen der Weber-Unruhen &c. in
Druck geben, sollten Sie vorziehen dies
1 Der Weberaufstand 1844 in Schlesien erregte großes mediales Interesse und inspirierte diverse poetische Erzeugnisse, die der politischen Lyrik des Vormärz' zugerechnet werden.
2 Bettina von Arnim ließ im Mai 1844 in mehreren großen Zeitungen für ihr sogenanntes Armenbuch-Projekt einen Aufruf schalten, „an Alle, welche über den Zustand des Armenwesens in Gemeinden, Kreisen, Bezirken, Provinzen u.s.w. des gesammten deutschen Vaterlandes genaue Auskunft zu geben vermögen, [...] der Frau von Arnim getreue Berichte darüber zukommen zu lassen. Besonders wünschenswerth würde es auch seyn, wenn in diesen Berichten angeführt würde, was bis jetzt zur Abhelfung des Uebels [...] geschehen ist und welche Mittel sich wohl zur Verminderung des Noth als wirksam erweisen dürften.“ Der Aufruf erschien am 15.5.1844 in Nr. 113 der Magdeburger Zeitung, 18.5.1844 in der Kölnischen Zeitung, 23.5.1844 in Nr. 144 der Augsburger Allgemeinen Zeitung, S. 1151
3 Die drei Kapitel, die von diesem Buchprojekt verwirklicht wurden, sind in der vorliegenden Online-Edition unter dem Titel „Bettinen gehört dies Buch! Die Günderode an Bettina (Buchprojekt)“ ediert.
4 Die Großmutter Helmina von Chézys, die Dichterin Anna Louisa Karsch, ist in ärmlichen und lieblosen Verhältnissen in Schlesien geboren und aufgewachsen. Im Jahr 1761 gelang ihr aufgrund der Aufmerksamkeit, die sie mit ihren Gedichten auf sich gezogen hatte, mit ihrer damals elfjährigen Tochter, der späteren Schriftstellerin Caroline von Klencke, die Übersiedlung nach Berlin.
5 Der Armenarzt und Publizist Otto Lüning geriet aufgrund sozialkritischer und demokratiebewegter Aktivitäten 1844 ins Visier der Justiz, trotzdem gelang es ihm 1845/46 eine Schriftensammlung mit dem Titel Diß Buch gehört dem Volke in drei Bänden herauszugeben.
Jenseits des Rheins zu bewerkstelligen
so lassen Sie mir das Manuskript
zugelangen, wo möglich aber nicht auf
Postwegen, sondern durch solche
Gelegenheit, ich werde es treu u
schnell besorgen. Meine Lebenstage
sind gezählt, meine Lebensstunden
gehören der guten Sache. Wie schwer
u bitter der Kampf habe ich bei den
Lazaretten6 u in Oestreich ob der Enns,7
zum Theil auch schon hier erfahren,
denn wies Welcker in den Ständeverhandl.
vortrug — ich glaube in der 72. oder sonst einer
70sten Sitzung, werden Sie kennen, u
die versteckte Quelle dieser Behandlung
war die dauernde Verfolgung, die ich
mir erweckt[am Rande: erweckt]. Wie Sie habe ich stets
mit Vertrauen u Liebe am Thron Hülfe
gesucht, u mir dort Wolwollen erweckt
u erhalten — Stehn Sie in keiner Verbindung mit Prinzeß Marianne
6 1813 bis 1816 engagierte sich Chézy in Hospitälern für die während der Befreiungskriege verwundeten Soldaten. Als sie auf verschiedenen Wegen auf die Missstände dort hinwies, wurde sie im Rheinland wegen Verleumdung angeklagt und verurteilt. Sie floh nach Berlin, wo sie in einem neu angesetzten Prozeß nach dem alten preußischen Gesetz freigesprochen wurde.
7 1826 unternahm Chézy eine Reise mit ihren Kindern Wilhelm und Max zur Luftkur und zum Wandern in Oberösterreich. Während und nach dieser Reise setzte sie sich durch Petitionen für die Salinenarbeiter, Weber und verarmten Bergbbewohner ein und veröffentlichte 1829 Jugendschicksale, Leben und Ansichten eines papierenen Kragens und 1833 den Reiseführer Norika, die beide sozialkritische Töne anschlugen. Nur ihre Kontakte zum kaiserlichen Hof konnten Chézy vor einem Prozeß bewahren. Norika wurde von der Zensur verboten.
Wilhelm von Preußen? Bei der Sache der
Verwundeten u Invaliden 1816 hat diese
engelgütige höchste Frau, so wie die selige
Schwester der Königin Luise, Charlotte
Herzogin von Hildburghausen beim
König viel Gutes, u zum Sieg der
Wahrheit viel bewirkt — Ich wirke hier
im Badenschen, wirkte im Caiserthum durch gleiche Vermittlung, in Preußen
haben wir ja auch die himmlischgute liebe
Königin mit dem vollen tiefen Herzschlag
für die Menschheit! Das Uebel ist so gros,
der Krebsschaden so tief, daß man weder
behutsam noch kräftig genug zu Werk
gehen kann. O, wie oft hat mein Herz
Blut geweint! Mir kommt es
vor – es ist aber nur Vermuthung –
als verlangten viele der freisinnigen
Männer einen Umsturz, ich war
nie dafür, denn ich war lange in
Frankreich, die erste Frucht, die nach dem
endlichen Stillstand der Waffen, nach
der Erholung der von den Temps de la terreur
reifte, war das Kaiserthum — Despotismus
u Aristokratie in allerhöchster Potenz — die
zweite Bourbon Rückkehr8 u.s.w. jetzt
stehn rund um Paris her die furchtbarsten
Bastillen in Menge statt der am 14 Juli
17919 niedergerissenen — u die kampfmüde Masse,
die ganz Fleisch geworden, fügt sich Allem,
u vergißt der über sie gebrachten Schmach
des Hochverraths an Polen,10 Allem
was die Welt 1830 von ihr verlangt.
Unheilbar wund ist Europa, wir können
alle, die wir’s redlich meinen, nur
Balsam, nur Kühlung u Linderung
vermitteln, u diese kann nur von
der Ueberzeugung, die wir am Thron
erwecken, ausgehn. Sehn wir uns aber
das Volk recht durch u durch an, so
finden wir in seiner eignen – nicht
angebornen, sondern anerzognen,
eingeimpften Verderbniß, in der mit der Muttermilch eingesognen
Knechtung die Ursach daß es gedrückt
gemißbraucht, ausgesaugt wird, ich
8 Gemeint sind Ludwig XVIII. und Karl X., die von 1814 bis 1830 einer Restauration der Bourbonen-Dynastie vorstanden.
9 Gemeint ist der Sturm auf die Bastille 1789.
10 Nachdem der sogenannte Novemberaufstand 1830/1831 in Polen von der russischen Armee niedergeschlagen worden war, verlor das Königreich Polen seine Verfassung. Es folgte eine große Emigrationsbewegung, die viele Polen nach Westeuropa brachte, wo sie im Zuge der Begeisterung für nationale Bewegungen mit viel Sympathie und Anteilnahme aufgenommen wurden.
habe darüber die schmerzlichsten begründetsten
Erfahrungen, es ist auch dem Volke Be=
dürfnis zu gehorchen, ja es will Glanz
über sich, wo es hinaufblikken kann, u
es bedarf des Glaubens nicht allein, auch
des Aberglaubens, denn sein niedres
dunkles, einfaches Loos will es nicht, kann
es nicht so tragen tragen, wie es ist, es verlangt
Poesie hinein, u greift sich diese überall
heraus. In der Gefahr u Noth seiner Helfer
zeigen es alle Zeiten, wie es Goethe
im Egmont geschildert. Ja, es soll
arbeiten, es soll beten, es soll gehorchen,
aber satt u fröhlich soll es seyn!
O, wer es dahin bringen könnte, wo
es Heinrich IV haben wollte — "der Bauer alle
"Sonntag sein Huhn im Topf!“11
aber Ravaillac senkt den Dolch in
das wahre Königsherz, das für
sein Volk schlug.12
Anworten Sie mir Bettina! Ich
habe Sie in Ihrem schönen Wollen
u treuen Wirken in tiefster Seele
lieb, u meine Sporen hab ich mir redlich
verdient, ich mein‘ ich könnte Ihnen
11 Als geflügeltes Wort überliefertes Zitat von Heinrich dem IV., das er im Gespräch mit Karl Emanuel I. von Savoyen geäußert haben soll: „Si Dieu me donne encore de la vie, je feray qu’il n’y aura point de laboureur en mon Royaume qui n’ait moyens d’avoir une poule dans son pot!“. Erstmals gedruckt in der Histoire du roy Henry Le Grand composée par Messire Hardouin de Perefixe, Paris 1662, S. 549.
12 François Ravaillac ermordete Heinrich IV. von Frankreich am 14. Mai 1610.
ein guter Waffenbruder werden. Nach
Berlin kann ich nicht, kom̄en Sie nach
Heidelberg, ist doch Welcker hier!
Ich lege Ihnen das Concept einer
Schrift bei, die ich gleich nach der 59.
Sitzung der Kam̄er im Aprill a. c.
schrieb noch eh ich Ihr Buch für
den König gelesen, diese soll
auch in das Buch, die Abschrift
habe ich längst machen lassen,
Welcker u ich sprechen viel von Ihnen
wenn ich ihn sehe, Sie kennen seinen
Genius, sein Herz, seine Treue. Ich
sehe ihn kämpfen u leiden, ihn u seine
edlen Kampfgefährten. In einer der
letzten Sitzungen nannte Hekker
mit Begeisterung Bettinen. Haben
Sie die Berichte von den Sitzungen?
Ihr Briefwechsel mit Clemens ist hier gleich
vergriffen worden, ich habe ihn also nicht
empfangen. Sgouta hat mir Ihre Gunderode
u das Buch für den König zu lesen
gegeben. Er ist sehr brav u lieb, dieser
Grieche, u Ihr ächter Verehrer. Ich konnte
ihn nur wenig sehen, doch ungern werde ich
ihn vermissen, er verläßt uns nun.
Ja, Sie sollten herkom̄en, denn nur dann
ließe viel sich bewirken, u Werkthätigkeit
in dem Sinn, in welchem Sie schon durch
den Brief aus dem Voigtland13 gehandelt, u
in noch viel ausgedehnteren u umfassendern,
dazu könnte ich Ihnen Wege, die Sie nicht
ahnen, zeigen, doch mit Briefen geht
das zu langsam, kom̄en Sie! Wenn
Sie aber keines Gefährten bedürfen, oder
wenn der Gedanke daran Sie gar stören
sollte, so nehmen Sie doch den Seegen
meiner Liebesthränen, meiner Muttersorge
u Zärtlichkeit auf Ihre Bahn mit,
Gott wird ihn hören!
Helmina v Chezy Heidelberg 29 Julius 1844
13 Den Anhang zu Bettina von Arnims Königsbuch bilden die „Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtlande“: Der Schweizer Pädagoge Heinrich Grunholzer dokumentiert im Armenviertel im Norden Berlins vor dem Hamburger Tor, dem sogenannten Voigtland, das soziale Elend, indem er minutiös aufführt, wieviele Personen jeweils in einem Zimmer wohnen, wieviel Geld sie monatlich in welchem Beruf verdienen und nach Abzug der Miete zur Verfügung haben und wieviele Angehörige sie damit versorgen müssen.
Zwischen dem 4 -7 Junius, und während in Schlesien Bluth floß,1 wurde der Brief geschrieben, den Sie gedruckt in einem Ihnen zugeeingneten Werke bekommen hätten, doch Herr Sgouta hat eine Gelegenheit nach Berlin, und so übertrag ich ihm eine Botschaft, und hoffe daß dies Entgegen kommen auf gleichem Weg Bettina willkommen ist, das Buch, dem dieser Brief gleichsam als Zueignung vorsteht, erfüllt einen großen Theil Ihrer Aufforderung, die in den Zeitungen stand, und die im Brief der Gunderode gedrängt wiederholt ist: Wo ist die Noth? woher die Noth? und so weiter2 Der Titel heißt: Dies Buch gehört Bettinen.3
Wie ahnungsvoll ist der Brief der Günderode! Wie durchweht von den letzten Seufzern der Opfer in Schlesien! Liebes gutes Schlesien! Meiner Großmutter und Mutter Heimath!4
Otto Lüning, so sagen die Zeitungen, hat wegen des Buches, das dem Volke gehört, viel garstige Unannehmlichkeiten erfahren,5 die Zeitungen sagen, Sie würden die Beweisstücke wegen der Weber-Unruhen et cetera in Druck geben, sollten Sie vorziehen dies
1 Der Weberaufstand 1844 in Schlesien erregte großes mediales Interesse und inspirierte diverse poetische Erzeugnisse, die der politischen Lyrik des Vormärz' zugerechnet werden.
2 Bettina von Arnim ließ im Mai 1844 in mehreren großen Zeitungen für ihr sogenanntes Armenbuch-Projekt einen Aufruf schalten, „an Alle, welche über den Zustand des Armenwesens in Gemeinden, Kreisen, Bezirken, Provinzen und so weiter des gesammten deutschen Vaterlandes genaue Auskunft zu geben vermögen, [...] der Frau von Arnim getreue Berichte darüber zukommen zu lassen. Besonders wünschenswerth würde es auch seyn, wenn in diesen Berichten angeführt würde, was bis jetzt zur Abhelfung des Uebels [...] geschehen ist und welche Mittel sich wohl zur Verminderung des Noth als wirksam erweisen dürften.“ Der Aufruf erschien am 15.5.1844 in Nr. 113 der Magdeburger Zeitung, 18.5.1844 in der Kölnischen Zeitung, 23.5.1844 in Nr. 144 der Augsburger Allgemeinen Zeitung, S. 1151
3 Die drei Kapitel, die von diesem Buchprojekt verwirklicht wurden, sind in der vorliegenden Online-Edition unter dem Titel „Bettinen gehört dies Buch! Die Günderode an Bettina (Buchprojekt)“ ediert.
4 Die Großmutter Helmina von Chézys, die Dichterin Anna Louisa Karsch, ist in ärmlichen und lieblosen Verhältnissen in Schlesien geboren und aufgewachsen. Im Jahr 1761 gelang ihr aufgrund der Aufmerksamkeit, die sie mit ihren Gedichten auf sich gezogen hatte, mit ihrer damals elfjährigen Tochter, der späteren Schriftstellerin Caroline von Klencke, die Übersiedlung nach Berlin.
5 Der Armenarzt und Publizist Otto Lüning geriet aufgrund sozialkritischer und demokratiebewegter Aktivitäten 1844 ins Visier der Justiz, trotzdem gelang es ihm 1845/46 eine Schriftensammlung mit dem Titel Diß Buch gehört dem Volke in drei Bänden herauszugeben.
Jenseits des Rheins zu bewerkstelligen so lassen Sie mir das Manuskript zugelangen, wo möglich aber nicht auf Postwegen, sondern durch solche Gelegenheit, ich werde es treu und schnell besorgen. Meine Lebenstage sind gezählt, meine Lebensstunden gehören der guten Sache. Wie schwer und bitter der Kampf habe ich bei den Lazaretten6 und in Oestreich ob der Enns,7 zum Theil auch schon hier erfahren, denn wies Welcker in den Ständeverhandlung vortrug — ich glaube in der 72. oder sonst einer 70sten Sitzung, werden Sie kennen, und die versteckte Quelle dieser Behandlung war die dauernde Verfolgung, die ich mir erweckt. Wie Sie habe ich stets mit Vertrauen und Liebe am Thron Hülfe gesucht, und mir dort Wolwollen erweckt und erhalten — Stehn Sie in keiner Verbindung mit Prinzeß Marianne
6 1813 bis 1816 engagierte sich Chézy in Hospitälern für die während der Befreiungskriege verwundeten Soldaten. Als sie auf verschiedenen Wegen auf die Missstände dort hinwies, wurde sie im Rheinland wegen Verleumdung angeklagt und verurteilt. Sie floh nach Berlin, wo sie in einem neu angesetzten Prozeß nach dem alten preußischen Gesetz freigesprochen wurde.
7 1826 unternahm Chézy eine Reise mit ihren Kindern Wilhelm und Max zur Luftkur und zum Wandern in Oberösterreich. Während und nach dieser Reise setzte sie sich durch Petitionen für die Salinenarbeiter, Weber und verarmten Bergbbewohner ein und veröffentlichte 1829 Jugendschicksale, Leben und Ansichten eines papierenen Kragens und 1833 den Reiseführer Norika, die beide sozialkritische Töne anschlugen. Nur ihre Kontakte zum kaiserlichen Hof konnten Chézy vor einem Prozeß bewahren. Norika wurde von der Zensur verboten.
Wilhelm von Preußen? Bei der Sache der Verwundeten und Invaliden 1816 hat diese engelgütige höchste Frau, so wie die selige Schwester der Königin Luise, Charlotte Herzogin von Hildburghausen beim König viel Gutes, und zum Sieg der Wahrheit viel bewirkt — Ich wirke hier im Badenschen, wirkte im Caiserthum durch gleiche Vermittlung, in Preußen haben wir ja auch die himmlischgute liebe Königin mit dem vollen tiefen Herzschlag für die Menschheit! Das Uebel ist so gros, der Krebsschaden so tief, daß man weder behutsam noch kräftig genug zu Werk gehen kann. O, wie oft hat mein Herz Blut geweint! Mir kommt es vor – es ist aber nur Vermuthung – als verlangten viele der freisinnigen Männer einen Umsturz, ich war nie dafür, denn ich war lange in Frankreich, die erste Frucht, die nach dem endlichen Stillstand der Waffen, nach der Erholung von den Temps de la terreur
reifte, war das Kaiserthum — Despotismus und Aristokratie in allerhöchster Potenz — die zweite Bourbon Rückkehr8 und so weiter jetzt stehn rund um Paris her die furchtbarsten Bastillen in Menge statt der am 14 Juli 17919 niedergerissenen — und die kampfmüde Masse, die ganz Fleisch geworden, fügt sich Allem, und vergißt der über sie gebrachten Schmach des Hochverraths an Polen,10 Allem was die Welt 1830 von ihr verlangt. Unheilbar wund ist Europa, wir können alle, die wir’s redlich meinen, nur Balsam, nur Kühlung und Linderung vermitteln, und diese kann nur von der Ueberzeugung, die wir am Thron erwecken, ausgehn. Sehn wir uns aber das Volk recht durch und durch an, so finden wir in seiner eignen – nicht angebornen, sondern anerzognen, eingeimpften Verderbniß, in der mit der Muttermilch eingesognen Knechtung die Ursach daß es gedrückt gemißbraucht, ausgesaugt wird, ich
8 Gemeint sind Ludwig XVIII. und Karl X., die von 1814 bis 1830 einer Restauration der Bourbonen-Dynastie vorstanden.
9 Gemeint ist der Sturm auf die Bastille 1789.
10 Nachdem der sogenannte Novemberaufstand 1830/1831 in Polen von der russischen Armee niedergeschlagen worden war, verlor das Königreich Polen seine Verfassung. Es folgte eine große Emigrationsbewegung, die viele Polen nach Westeuropa brachte, wo sie im Zuge der Begeisterung für nationale Bewegungen mit viel Sympathie und Anteilnahme aufgenommen wurden.
habe darüber die schmerzlichsten begründetsten Erfahrungen, es ist auch dem Volke Bedürfnis zu gehorchen, ja es will Glanz über sich, wo es hinaufblikken kann, und es bedarf des Glaubens nicht allein, auch des Aberglaubens, denn sein niedres dunkles, einfaches Loos will es nicht, kann es nicht so tragen, wie es ist, es verlangt Poesie hinein, und greift sich diese überall heraus. In der Gefahr und Noth seiner Helfer zeigen es alle Zeiten, wie es Goethe im Egmont geschildert. Ja, es soll arbeiten, es soll beten, es soll gehorchen, aber satt und fröhlich soll es seyn! O, wer es dahin bringen könnte, wo es Heinrich IV haben wollte — "der Bauer alle Sonntag sein Huhn im Topf!“11 aber Ravaillac senkt den Dolch in das wahre Königsherz, das für sein Volk schlug.12
Anworten Sie mir Bettina! Ich habe Sie in Ihrem schönen Wollen und treuen Wirken in tiefster Seele lieb, und meine Sporen hab ich mir redlich verdient, ich mein‘ ich könnte Ihnen
11 Als geflügeltes Wort überliefertes Zitat von Heinrich dem IV., das er im Gespräch mit Karl Emanuel I. von Savoyen geäußert haben soll: „Si Dieu me donne encore de la vie, je feray qu’il n’y aura point de laboureur en mon Royaume qui n’ait moyens d’avoir une poule dans son pot!“. Erstmals gedruckt in der Histoire du roy Henry Le Grand composée par Messire Hardouin de Perefixe, Paris 1662, S. 549.
12 François Ravaillac ermordete Heinrich IV. von Frankreich am 14. Mai 1610.
ein guter Waffenbruder werden. Nach Berlin kann ich nicht, kommen Sie nach Heidelberg, ist doch Welcker hier!
Ich lege Ihnen das Concept einer Schrift bei, die ich gleich nach der 59. Sitzung der Kammer im Aprill anni currentis schrieb noch eh ich Ihr Buch für den König gelesen, diese soll auch in das Buch, die Abschrift habe ich längst machen lassen, Welcker und ich sprechen viel von Ihnen wenn ich ihn sehe, Sie kennen seinen Genius, sein Herz, seine Treue. Ich sehe ihn kämpfen und leiden, ihn und seine edlen Kampfgefährten. In einer der letzten Sitzungen nannte Hekker mit Begeisterung Bettinen. Haben Sie die Berichte von den Sitzungen?
Ihr Briefwechsel mit Clemens ist hier gleich vergriffen worden, ich habe ihn also nicht empfangen. Sgouta hat mir Ihre Gunderode und das Buch für den König zu lesen gegeben. Er ist sehr brav und lieb, dieser Grieche, und Ihr ächter Verehrer. Ich konnte ihn nur wenig sehen, doch ungern werde ich ihn vermissen, er verläßt uns nun.
Ja, Sie sollten herkommen, denn nur dann ließe viel sich bewirken, und Werkthätigkeit in dem Sinn, in welchem Sie schon durch den Brief aus dem Voigtland13 gehandelt, und in noch viel ausgedehnteren und umfassendern, dazu könnte ich Ihnen Wege, die Sie nicht ahnen, zeigen, doch mit Briefen geht das zu langsam, kommen Sie! Wenn Sie aber keines Gefährten bedürfen, oder wenn der Gedanke daran Sie gar stören sollte, so nehmen Sie doch den Seegen meiner Liebesthränen, meiner Muttersorge und Zärtlichkeit auf Ihre Bahn mit, Gott wird ihn hören! Helmina v Chezy Heidelberg 29 Julius 1844
13 Den Anhang zu Bettina von Arnims Königsbuch bilden die „Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtlande“: Der Schweizer Pädagoge Heinrich Grunholzer dokumentiert im Armenviertel im Norden Berlins vor dem Hamburger Tor, dem sogenannten Voigtland, das soziale Elend, indem er minutiös aufführt, wieviele Personen jeweils in einem Zimmer wohnen, wieviel Geld sie monatlich in welchem Beruf verdienen und nach Abzug der Miete zur Verfügung haben und wieviele Angehörige sie damit versorgen müssen.