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1 Der vorliegende Text wurde von Lothar Busch als „literarischer Brief“ (S. 116) bezeichnet. Dieser Gattungseinordnung ist eindeutig zuzustimmen, erinnert der Text doch an die von Gotthold Ephraim Lessing veröffentlichten Texte in Nicolais Zeitschrift „Briefe, die neueste Literatur betreffend“. Zwar wird Ludwig Tieck auf dem Titelblatt des Manuskriptes adressiert, doch ist der briefähnliche Text nicht versendet worden, zumindest weist das Dokument keine entsprechenden Spuren (wie Stempel oder Faltungen) auf. Es ist leider nicht zu rekonstruieren, ob Adelheid Reinbold Ludwig Tieck den Literaturbrief zu Lebzeiten übergeben hat.
Gerade bin ich mit Jean Pauls Titan –
ich hatte bis daher noch Nichts von ihm gele_
sen – fertig, so wie mit der voll schönen
Begeisterung geschriebenen, aber sehr unwahren
Schrift Menzels, der, wie eine Jungfrau über
män̄liche Entwicklung, blos von der sittlichen
Schönheit aus die ganze Welt betrachtet.
Der Eindruck von diesen beiden Werken, die im
Gegensaz zu Ihrem Geist, dem ich im̄er, wie Shak.
der Bühne, die Ziffer 0 beilegen möchte, zusam̄en_
kom̄en, gab mir einige Worte in den Mund,
durch die ich vielleicht mich darüber rechtfertigen
kan̄, daß ich sagte, ich ahne den Mittelpunkt Ihrer
Poësie. Wie gerne möchte ich aus den von allen
Seiten zusam̄enstim̄enden Tönen eine Ouvertüre
komponieren! Aber das ist nun nicht zu ändern,
J. P. sagt einmal, das Talent müsse eine Rich_
tung nach dem Schwerpunkt haben; ich bin selbst
im Schwerpunkt,2 das ist meine einzige Entschul_
digung. Erlauben Sie, daß ich, wie ein
Knabe, der aus der Schule komt u. nicht
2 In Jean Pauls Titan heißt es: „Sie fühlen alles Schöne und Große gewaltig und wollen es aus sich wieder erschaffen, aber es gelingt ihnen nur schwach; sie haben nicht wie das Genie eine Richtung nach dem Schwerpunkt, sondern stehen selber im Schwerpunkt, so daß die Richtungen einander aufheben.“ (Band 4, 27. Jobelperiode, 105. Zykel).
fertig werden will, seinem Vater diese
u. jene Frage über das, was er gehört, vor_
zulegen, Ihnen Einiges ganz so, wie es in
diesem Augenblick in meinem Kopfe ist, vor_
schwatzen darf.
Die reinpoëtische Weltansicht unserer Zeit
oder die Erscheinung, daß die ganze Zeit in
Ihrem u. Göthes Geist hell als vollendetes
Drama sich abspiegeln kon̄te, dieser letzte u.
höchste Uebergang der Poësie aus dem Leben
ins Bewußtseyn, aus der Lyrik ins Dra_
matische, aus der Mythe in die Geschichte,
aus dem Symbol in das lebendige Wort,
diese Apotheose der Poësie aller Zeiten scheint
mir entbunden worden zu seyn durch die
Naturfilosofie, die in einer Physik des
Geistes u. der Geschichte jedem geistigen
Wesen, sei es ein Charakter oder eine Mei_
nung oder eine Begebenheit, dasselbe Recht
sichert, wie in der gemeinen Physik je_
dem materiellen Wesen, in der jede Ent_
zweiung als natürlich nachgewiesen,
3
alle Widersprüche auf einen ursprüng_
lichen, nothwendigen Gegensaz zurückgeführt
werden, die die historischen Perioden, wie
Jahreszeiten, kurz Alles organisch betrachtet.
Ist nicht die Morgenröthe dieses magischen
Tages Jakob Böhme 3u. die Mittagsson̄e
der wiedergeborene Shakespeare? jener das
Centrum, dieser die Peripherie, jener das
Leben selbst, dieser das Bild jeglichen Lebens?
Zwischen diesen beiden Enden scheint mir
all unsere Weisheit u. Kunst zu liegen.
Wie Ideelles u. Reales, so dünkt mir
Ihr Geist u. Göthes sich gegeneinander zu
verhalten. Dem Antiken steht das Roman_
tische, der klaren Verständlichkeit des er_
scheinenden Lebens das in̄erliche Weben des
Geistes entgegen, der seiner Natur nach my_
stisch ist. Das Göttliche liegt aber darin̄,
daß das nNatürliche, Gewöhnliche, wie die
Wahlverwandschaften, das Wunderbarste
u. das Wunderbarste, wie Ihre Mährchenwelt,
3 Die Engführung von „Morgenröthe“ und „Jakob Böhme“ lässt auf die von Jakob Böhme verfasste philosophische Schrift „Aurora, das ist: Morgenröthe im Aufgang und Mutter der Philosophiae“ schließen. Jedoch bedient sich Adelheid Reinbold hier dem literarischen Gestus des Spiels mit Mehrdeutigkeiten, wonach die „Morgenröthe“ auch als Metapher für den Anfang gelesen werden kann.
wiederum das Natürliche ist. [...]So sind
Sie u. Göthe entgegensetzt u. identisch
zugleich, wie die Natur u. der Geist.
Oder betrachtet Göthe nicht doch nur episch
mit der Naturanschauung eines Homers
die Welt, Ihr Geist aber dramatisch?
Etwa wie Platos Dialektik in dem ho_
hen Sin̄e, in dem Sie uns das Dramati_
sche begreifen lernhrten, dramatischer ist,
als die Tragiker. Dern wunderlichen
scheinbaren Widerspruch, daß Sie, obgleich
die Welt mehr, als irgendeiner, physio_
gnomisch betrachtend, doch die Form Ihrer
Dichtung nie mimisch (oder theatralisch)
werden ließen – gehen Sie nicht stets
von Etwas Besonderem aus u. verklä_
ren es in ein Allgemeines, stellen Sie nicht
die Welt, die Sie gerade im Einzelnen
u. Kleinen betrachten, makrokosmisch
dar, während Göthe von einem all__
4
gemeinen Begriff auszugehen scheint;
den er mikrokosmisch in einem Beson_
dern darstellt? – Diesen scheinba_
re Widerspruch, sowie den, der so nahe
damit zusam̄enhängt, daß man sagen kan̄,
Ihre Poësie seye bewußtvoll, die Göthische
unbewußt u. daß sich dieß wieder im
Einzelnen gerade umkehren läßt, diese
scheinbare Widersprüche meine ich klar
lösen zu kön̄en u. ich möchte sagen, ich
denke dabei, was ich bei dem Gegensaz
denke, den die Tragiker gegen Plato
bilden. – Dramatisch ist der ganze Cha_
rakter der Zeit u. ebendeßwegen trägt
sie in sich Epos, Lyrik u. Drama. Liegt
nun in Göthe nicht elementarisch, episch
reell, was in Ihrem Geiste sich selbst
bewußt geworden u. idelell in der
dramatischen Formen beschlossen ist.
Wen̄ nur solche bildliche Ausdrücke
nicht das Mißverständniß an der
Stirne trügen! Wär' ich ein Professor
der Psychologie, so würd' ich etwa docieren
Göthe habe das menschliche Wollen, Sie
die eigentliche Vernunft oder Fantasie
bearbeitet, Göthe sei a posteriorisch,
Sie a prioorisch verfahren. –
Wie ferner Sie die Geschichte des mensch_
lichen Geistes zur Geschichte der Poësie
erhoben, das Leben in Kunst verwan_
delt haben, so haben die Filosofen die
Geschichte der Natur zur Geschichte der
Menschheit gemacht, so daß auch die
äußere Natur ein crystallisiertes
Drama ist. Charakterisiert sich die_
ser Pantheismus nicht auch in dem un_
serer Zeit entwachsenen historischen
Roman, wo der Mensch, nur ein Pro_
dukt der Geschichte ist, gleichsam eine
5
Blüthe, die aus ihrer Mitte hervor_
vegetiert, von ihren Säften genährt
u. von ihren geheimen Kräften festge_
halten. –
Ganz thöricht u. + [in the margin: + natürl. spreche
ich hier nicht von der
Form eines einzelnen
poët. Kstwrks son_
dern blos von den
Elementen der Poësie.] leer scheint es mir, wen̄
man in unserer Zeit noch die Poësie nach
der äußeren Eintheilung der Aesthe_
tik, der lyrischen, epischen u. drama_
tischen Form betrachten will; dieß
sind nur Vorbilder gewesen, etwa wie
der Opferdienst im A. T. Lyrisch ist Alles
subjective, was nicht mikrokosmisch
den Organismus des Weltganzen dar_
stellt d. h. dramatisch ist. Ist z. B.
nicht die ganze Poësie Schillers die blose
Lyrik des edlen Jünglings, wie er in
allen Zeiten ist, ist Ssie nicht Etwas ganz
einzelnes, subjektives, nehmlich die
Apotheose der sittlichen Schönheit?
Weit eminenter u. charakteristischer ist
Jean Paul. Er scheint mir recht eigentlich
die reine Lyrik der Naturfilosofie zu
seyn. Verhält er sich nicht zu Ihnen, wie
Fichte zu Schelling? Beinahe den tiefsten
Eindruck im ganzen Titan machte auf mich
[jeene] Sentenz: "Gott gebe nur, daß Gott
selber einmals zu sich sagt: Ich! Das Uni_
versum zitterte aus einander glaub
ich, den̄ Gott findet keine dritte Hand.“ 4
Ich meinte, je weiter ich darüber nachdachte,
die Rize gefunden zu haben, durch die ich
freilich noch in großer Ferne den Jean
Paulschen Genius erkan̄te. Bestandeht nicht
seine Individualität darin̄, daß er den
fichteischen Saz: das Ich ist Gott! auf
eine andere Weise, nehmlich, wen̄ ich so
sagen darf, persönlicher, als Novalis,
in einem großen Anthropomorphismus
darstellen will u. was ist sein Humor
4 Zitat aus dem Titan Jean Pauls (Band 4, 33. Jobelperiode, 136. Zykel).
6
anders, als eben der Widerspruch von
diesem Ideal? Könte man in Bezie_
hung auf seinen Humor nicht Lichtenberg
Jean Pauls geistlichen Vater nen̄en. We_
nigstens kan̄ ich nur auf diese Weise ver_
stehen, was Solger von dem erdgebornen
Ringen Jean Pauls sagt 5 u. was eben
Lichtenberg in seiner Verpuppung ließ, ihn,
der wohl ebensonahe zu einem Dichter,
als zu einem Filosofen hatte u. doch das
Gegentheil vo[n] beiden war. Nur darum,
dünkt mir, ist Jean Paul kein Künst_
ler geworden, weil er im̄erzu sichsagte:
Ich! So wird er im̄er "das Faktotum
der Welt“6, wie Schoppe 7 von sich beken̄t,
ja er ist der Geplagte selbst u. mich
wundert, daß man nicht auf Jean
Pauls Grabstein die Worte setzt:
"Nun hast du hienieden geendet, strenger,
fester Geist! Die Erdkugel u. alles
5 In Solgers Nachgelassene Schriften und Briefwechsel heißt es: „Es giebt irdische Naturen, die sich mit aller Gewalt nach dem Höhern abquälen und das Schönste und Beste ihrer Welt auf einander häufen, um darauf in die andere zu steigen, aber natürlich vergebens. Dahin gehört auch der erdgeborne Jean Paul.“ (Bd. 1, S. 93: in „Kleine Aufsätze vom Jahre 1803“)
6 Zitat aus Jean Pauls Titan. (Band 4, 31. Jobelperiode, 122. Zykel)
7 Schoppe ist einer von fünf Protagonisten in Jean Pauls Titan.
Irdische, woraus die flüchtigen Wel_
ten sich formen, war Dir ja viel zu
klein u. leicht. Den̄ Etwas höheres,
als das Leben, suchtest Du hinter dem
Leben, nicht dein Ich, keinen Sterb_
lichen, nicht einen unsterblichen, sondern
den Ewigen, den Allerersten, den Gott.
Das hiesige Scheinen war Dir so gleich_
gültig, das Böse, wie das Gute. Nun
ruhst Du im rechten Seyn, der Tod
hat vom dunkeln Herzen die ganze
schwüle Lebenswolke weggezogen,
u. das ewige Licht steht unbedekt,
das Du lange suchtest u. Du, sein
Str[...]ahl, wohnst wieder im Feuer!“8
Je mehr ichin diese Rede schaute,
desto bestim̄ter schien es mir seine
Physiognomie zu seyn. Daß er nie das Gro_
ße im Kleinen sah, das machte ihn so
undramatisch d. h. unkünstlerisch.
8 vgl. die Stelle aus Jean Pauls Titan. (Band 4, 34. Jobelperiode, 139. Zykel)
7
Die unendlichen, naturfilosofischen Pa_
rallelen, die er durch Him̄el u. Erde zog,
sind aber recht die mythologischen Bilder
unserer neuen kosmogonischen Poësie,
der Historien u. Landschaftsmaler Walter Skott ist sein
äußerstes Extrem. Wer seine Lyrik in
ein naturfilosofisches Drama aufzulösen
vermag, wird ein großer Künstler seyn.
Sie würden mir Unrecht thun, wen̄ Sie arg_
wöhnten, ich halte, was ich hier ausgesprochen,
für Etwas dem Aehnliches, was man solide
Ideen nen̄t. Ich sehe vielmehr sehr deutlich ein,
wie es blos der Schaum einer tiefen, gemüth_
lichen Entwicklung u. als Empfindung ei_
ner ganz relativen Stim̄ung Etwas Ober_
flächliches ist. Sie mögen es sich leicht
denken, wie drückend es einem Jüng_
ling bei der Ahnung, wie universell
der Charakter seiner Zeit ist, wird, blos
in Gefühlen sich abzumatten u. nicht
ergründen zu dürfen, was er ahnet. Ich
mache gewiß Nichts besonderes aus mir, son_
dern spreche nur in der Scene, in der ich gera_
de bin, das tragikomische ist für mich die
schreckliche Ungewißheit, ob auch das äußere
Geschick meinen Charakter, wie ichs wün_
sche, dramatisch hinausführt, den̄och aber
soll ich sprechen, wie ein gemachter Man̄, wen̄
ich nicht für traümerisch oder hochmüthig ge_
halten werden will. Kein Mensch außer
Ihnen versteht mich, wen̄ ich zu ihm sage:
"Ich kan̄ noch nichts schaffen, weil ich noch ei_
ne reine Negation bin, ein poëtischer
Nihilist, ich kan̄ wohl vernünftig sdenken
u. sprechen, aber nicht in meinen eigenen
Worten sondern nur in den Reden der
Meister, denen ich Leib u. Seele hingebe,
wie die alten Gottesgelehrten blos in
Bibelsprüchen sich ausdrükten. Mein
erworbenes Wissen hat mir nur die
8
Welt, in der ichlebte, genom̄en, ohne
daß ich mir ein Lehrgeld für ein ande_
res Land daraus rettete.“ Doch ich kom̄e
wieder ins peinliche Reden, wo mir die Feder in Stein erstarrt u. Sie wissen
gewiß, was ich sagen will. Mein einziger
Trost ist, daß der Geist sowenig rückwärts
gehen kan̄, als ein Kind im Mutterleib,
u. daß ich klar erken̄e, wie mein ganzes
Leben bis auf diesen Augenblick kein an_
deres werden kon̄te, als es g geworden ist.
War es ja doch gerade mein Leben, das
mir jene hohe Offenbarungen der Poësie [in the margin: überh. verstehen lehrte u.]
verbürgte! Was kom̄t, ist wieder die
Folge des Vorangegangenen, z. B. wen̄
ich Sie davon überzeugen kan̄, daß ich
noch Etwas Tüchtiges leisten kan̄, so werde
ich es auch zu leisten Gelegenheit finden;
ist dieß nicht der Fall, so bin ich einer
der vom Schicksal geopferten Menschen u.
zwar von der niedrigsten Klasse, "die
die Milchstraße der Unendlichkeit
u. den Regenbogen der Fantasie
zum Bogen ihrer Hand gebrauchen woll_
ten, ohne je eine Sehne darüberziehen
zu kön̄en." 9 Ichw erde in diesem Fall
gewiß keiner von den Narren seyn, welche
über Götter u. Schicksal fluchen. Doch
kan̄ ich mir die Sache gar nicht deut_
lich vorstellen. Möge es Gott gefallen,
daß ich, nachdem ich die todte Form
zerschlagen, mein Leben dem Studi_
um der höheren Gottesgelahrtheit wid_
men darf!
9 Zitat aus Jean Pauls Titan (Band 4, 35. Jobelperiode, 145. Zykel).
10 Ab hier folgt im Manuskript eine Abschrift des vorangegangenen Textes, wahrscheinlich von der Hand Karl Hellmuth Dammas' (vgl. Busch 1999, S.116)
1 Der vorliegende Text wurde von Lothar Busch als „literarischer Brief“ (S. 116) bezeichnet. Dieser Gattungseinordnung ist eindeutig zuzustimmen, erinnert der Text doch an die von Gotthold Ephraim Lessing veröffentlichten Texte in Nicolais Zeitschrift „Briefe, die neueste Literatur betreffend“. Zwar wird Ludwig Tieck auf dem Titelblatt des Manuskriptes adressiert, doch ist der briefähnliche Text nicht versendet worden, zumindest weist das Dokument keine entsprechenden Spuren (wie Stempel oder Faltungen) auf. Es ist leider nicht zu rekonstruieren, ob Adelheid Reinbold Ludwig Tieck den Literaturbrief zu Lebzeiten übergeben hat.
Gerade bin ich mit Jean Pauls Titan – ich hatte bis daher noch Nichts von ihm gelesen – fertig, so wie mit der voll schönen Begeisterung geschriebenen, aber sehr unwahren Schrift Menzels, der, wie eine Jungfrau über männliche Entwicklung, blos von der sittlichen Schönheit aus die ganze Welt betrachtet. Der Eindruck von diesen beiden Werken, die im Gegensaz zu Ihrem Geist, dem ich immer, wie Shakespeare der Bühne, die Ziffer 0 beilegen möchte, zusammenkommen, gab mir einige Worte in den Mund, durch die ich vielleicht mich darüber rechtfertigen kann, daß ich sagte, ich ahne den Mittelpunkt Ihrer Poësie. Wie gerne möchte ich aus den von allen Seiten zusammenstimmenden Tönen eine Ouvertüre komponieren! Aber das ist nun nicht zu ändern, J. P. sagt einmal, das Talent müsse eine Richtung nach dem Schwerpunkt haben; ich bin selbst im Schwerpunkt,2 das ist meine einzige Entschuldigung. Erlauben Sie, daß ich, wie ein Knabe, der aus der Schule komt und nicht
2 In Jean Pauls Titan heißt es: „Sie fühlen alles Schöne und Große gewaltig und wollen es aus sich wieder erschaffen, aber es gelingt ihnen nur schwach; sie haben nicht wie das Genie eine Richtung nach dem Schwerpunkt, sondern stehen selber im Schwerpunkt, so daß die Richtungen einander aufheben.“ (Band 4, 27. Jobelperiode, 105. Zykel).
fertig werden will, seinem Vater diese und jene Frage über das, was er gehört, vorzulegen, Ihnen Einiges ganz so, wie es in diesem Augenblick in meinem Kopfe ist, vorschwatzen darf.
Die reinpoëtische Weltansicht unserer Zeit oder die Erscheinung, daß die ganze Zeit in Ihrem und Göthes Geist hell als vollendetes Drama sich abspiegeln konnte, dieser letzte und höchste Uebergang der Poësie aus dem Leben ins Bewußtseyn, aus der Lyrik ins Dramatische, aus der Mythe in die Geschichte, aus dem Symbol in das lebendige Wort, diese Apotheose der Poësie aller Zeiten scheint mir entbunden worden zu seyn durch die Naturfilosofie, die in einer Physik des Geistes und der Geschichte jedem geistigen Wesen, sei es ein Charakter oder eine Meinung oder eine Begebenheit, dasselbe Recht sichert, wie in der gemeinen Physik jedem materiellen Wesen, in der jede Entzweiung als natürlich nachgewiesen,
alle Widersprüche auf einen ursprünglichen, nothwendigen Gegensaz zurückgeführt werden, die die historischen Perioden, wie Jahreszeiten, kurz Alles organisch betrachtet. Ist nicht die Morgenröthe dieses magischen Tages Jakob Böhme 3und die Mittagssonne der wiedergeborene Shakespeare? jener das Centrum, dieser die Peripherie, jener das Leben selbst, dieser das Bild jeglichen Lebens? Zwischen diesen beiden Enden scheint mir all unsere Weisheit und Kunst zu liegen. Wie Ideelles und Reales, so dünkt mir Ihr Geist und Göthes sich gegeneinander zu verhalten. Dem Antiken steht das Romantische, der klaren Verständlichkeit des erscheinenden Lebens das innerliche Weben des Geistes entgegen, der seiner Natur nach mystisch ist. Das Göttliche liegt aber darinn, daß das Natürliche, Gewöhnliche, wie die Wahlverwandschaften, das Wunderbarste und das Wunderbarste, wie Ihre Mährchenwelt,
3 Die Engführung von „Morgenröthe“ und „Jakob Böhme“ lässt auf die von Jakob Böhme verfasste philosophische Schrift „Aurora, das ist: Morgenröthe im Aufgang und Mutter der Philosophiae“ schließen. Jedoch bedient sich Adelheid Reinbold hier dem literarischen Gestus des Spiels mit Mehrdeutigkeiten, wonach die „Morgenröthe“ auch als Metapher für den Anfang gelesen werden kann.
wiederum das Natürliche ist. So sind Sie und Göthe entgegensetzt und identisch zugleich, wie die Natur und der Geist. Oder betrachtet Göthe nicht doch nur episch mit der Naturanschauung eines Homers die Welt, Ihr Geist aber dramatisch? Etwa wie Platos Dialektik in dem hohen Sinne, in dem Sie uns das Dramatische begreifen lehrten, dramatischer ist, als die Tragiker. Den wunderlichen scheinbaren Widerspruch, daß Sie, obgleich die Welt mehr, als irgendeiner, physiognomisch betrachtend, doch die Form Ihrer Dichtung nie mimisch (oder theatralisch) werden ließen – gehen Sie nicht stets von Etwas Besonderem aus und verklären es in ein Allgemeines, stellen Sie nicht die Welt, die Sie gerade im Einzelnen und Kleinen betrachten, makrokosmisch dar, während Göthe von einem all__
gemeinen Begriff auszugehen scheint; den er mikrokosmisch in einem Besondern darstellt? – Diesen scheinbaren Widerspruch, sowie den, der so nahe damit zusammenhängt, daß man sagen kann, Ihre Poësie seye bewußtvoll, die Göthische unbewußt und daß sich dieß wieder im Einzelnen gerade umkehren läßt, diese scheinbare Widersprüche meine ich klar lösen zu können und ich möchte sagen, ich denke dabei, was ich bei dem Gegensaz denke, den die Tragiker gegen Plato bilden. – Dramatisch ist der ganze Charakter der Zeit und ebendeßwegen trägt sie in sich Epos, Lyrik und Drama. Liegt nun in Göthe nicht elementarisch, episch reell, was in Ihrem Geiste sich selbst bewußt geworden und ideell in den dramatischen Formen beschlossen ist.
Wenn nur solche bildliche Ausdrücke nicht das Mißverständniß an der Stirne trügen! Wär' ich ein Professor der Psychologie, so würd' ich etwa docieren Göthe habe das menschliche Wollen, Sie die eigentliche Vernunft oder Fantasie bearbeitet, Göthe sei a posteriorisch, Sie a priorisch verfahren. –
Wie ferner Sie die Geschichte des menschlichen Geistes zur Geschichte der Poësie erhoben, das Leben in Kunst verwandelt haben, so haben die Filosofen die Geschichte der Natur zur Geschichte der Menschheit gemacht, so daß auch die äußere Natur ein crystallisiertes Drama ist. Charakterisiert sich dieser Pantheismus nicht auch in dem unserer Zeit entwachsenen historischen Roman, wo der Mensch, nur ein Produkt der Geschichte ist, gleichsam eine
Blüthe, die aus ihrer Mitte hervorvegetiert, von ihren Säften genährt und von ihren geheimen Kräften festgehalten. –
Ganz thöricht und natürlich spreche ich hier nicht von der Form eines einzelnen poëtischen Kunstwerks sondern blos von den Elementen der Poësie. leer scheint es mir, wenn man in unserer Zeit noch die Poësie nach der äußeren Eintheilung der Aesthetik, der lyrischen, epischen und dramatischen Form betrachten will; dieß sind nur Vorbilder gewesen, etwa wie der Opferdienst im Alten Testament. Lyrisch ist Alles subjective, was nicht mikrokosmisch den Organismus des Weltganzen darstellt das heißt dramatisch ist. Ist zum Beispiel nicht die ganze Poësie Schillers die blose Lyrik des edlen Jünglings, wie er in allen Zeiten ist, ist sie nicht Etwas ganz einzelnes, subjektives, nehmlich die Apotheose der sittlichen Schönheit?
Weit eminenter und charakteristischer ist Jean Paul. Er scheint mir recht eigentlich die reine Lyrik der Naturfilosofie zu seyn. Verhält er sich nicht zu Ihnen, wie Fichte zu Schelling? Beinahe den tiefsten Eindruck im ganzen Titan machte auf mich [jeene] Sentenz: "Gott gebe nur, daß Gott selber einmals zu sich sagt: Ich! Das Universum zitterte aus einander glaub ich, denn Gott findet keine dritte Hand.“ 4 Ich meinte, je weiter ich darüber nachdachte, die Rize gefunden zu haben, durch die ich freilich noch in großer Ferne den Jean Paulschen Genius erkannte. Besteht nicht seine Individualität darinn, daß er den fichtischen Saz: das Ich ist Gott! auf eine andere Weise, nehmlich, wenn ich so sagen darf, persönlicher, als Novalis, in einem großen Anthropomorphismus darstellen will und was ist sein Humor
4 Zitat aus dem Titan Jean Pauls (Band 4, 33. Jobelperiode, 136. Zykel).
anders, als eben der Widerspruch von diesem Ideal? Könte man in Beziehung auf seinen Humor nicht Lichtenberg Jean Pauls geistlichen Vater nennen. Wenigstens kann ich nur auf diese Weise verstehen, was Solger von dem erdgebornen Ringen Jean Pauls sagt 5 und was eben Lichtenberg in seiner Verpuppung ließ, ihn, der wohl ebensonahe zu einem Dichter, als zu einem Filosofen hatte und doch das Gegentheil vo[n] beiden war. Nur darum, dünkt mir, ist Jean Paul kein Künstler geworden, weil er immerzu sich sagte: Ich! So wird er immer "das Faktotum der Welt“6, wie Schoppe 7 von sich bekennt, ja er ist der Geplagte selbst und mich wundert, daß man nicht auf Jean Pauls Grabstein die Worte setzt: "Nun hast du hienieden geendet, strenger, fester Geist! Die Erdkugel und alles
5 In Solgers Nachgelassene Schriften und Briefwechsel heißt es: „Es giebt irdische Naturen, die sich mit aller Gewalt nach dem Höhern abquälen und das Schönste und Beste ihrer Welt auf einander häufen, um darauf in die andere zu steigen, aber natürlich vergebens. Dahin gehört auch der erdgeborne Jean Paul.“ (Bd. 1, S. 93: in „Kleine Aufsätze vom Jahre 1803“)
6 Zitat aus Jean Pauls Titan. (Band 4, 31. Jobelperiode, 122. Zykel)
7 Schoppe ist einer von fünf Protagonisten in Jean Pauls Titan.
Irdische, woraus die flüchtigen Welten sich formen, war Dir ja viel zu klein und leicht. Denn Etwas höheres, als das Leben, suchtest Du hinter dem Leben, nicht dein Ich, keinen Sterblichen, nicht einen unsterblichen, sondern den Ewigen, den Allerersten, den Gott. Das hiesige Scheinen war Dir so gleichgültig, das Böse, wie das Gute. Nun ruhst Du im rechten Seyn, der Tod hat vom dunkeln Herzen die ganze schwüle Lebenswolke weggezogen, und das ewige Licht steht unbedekt, das Du lange suchtest und Du, sein Strahl, wohnst wieder im Feuer!“8 Je mehr ich in diese Rede schaute, desto bestimmter schien es mir seine Physiognomie zu seyn. Daß er nie das Große im Kleinen sah, das machte ihn so undramatisch das heißt unkünstlerisch.
8 vgl. die Stelle aus Jean Pauls Titan. (Band 4, 34. Jobelperiode, 139. Zykel)
Die unendlichen, naturfilosofischen Parallelen, die er durch Himmel und Erde zog, sind aber recht die mythologischen Bilder unserer neuen kosmogonischen Poësie, der Historien und Landschaftsmaler Walter Skott ist sein äußerstes Extrem. Wer seine Lyrik in ein naturfilosofisches Drama aufzulösen vermag, wird ein großer Künstler seyn.
Sie würden mir Unrecht thun, wenn Sie argwöhnten, ich halte, was ich hier ausgesprochen, für Etwas dem Aehnliches, was man solide Ideen nennt. Ich sehe vielmehr sehr deutlich ein, wie es blos der Schaum einer tiefen, gemüthlichen Entwicklung und als Empfindung einer ganz relativen Stimmung Etwas Oberflächliches ist. Sie mögen es sich leicht denken, wie drückend es einem Jüngling bei der Ahnung, wie universell der Charakter seiner Zeit ist, wird, blos in Gefühlen sich abzumatten und nicht
ergründen zu dürfen, was er ahnet. Ich mache gewiß Nichts besonderes aus mir, sondern spreche nur in der Scene, in der ich gerade bin, das tragikomische ist für mich die schreckliche Ungewißheit, ob auch das äußere Geschick meinen Charakter, wie ichs wünsche, dramatisch hinausführt, dennoch aber soll ich sprechen, wie ein gemachter Mann, wenn ich nicht für traümerisch oder hochmüthig gehalten werden will. Kein Mensch außer Ihnen versteht mich, wenn ich zu ihm sage: "Ich kann noch nichts schaffen, weil ich noch eine reine Negation bin, ein poëtischer Nihilist, ich kann wohl vernünftig denken und sprechen, aber nicht in meinen eigenen Worten sondern nur in den Reden der Meister, denen ich Leib und Seele hingebe, wie die alten Gottesgelehrten blos in Bibelsprüchen sich ausdrükten. Mein erworbenes Wissen hat mir nur die
Welt, in der ich lebte, genommen, ohne daß ich mir ein Lehrgeld für ein anderes Land daraus rettete.“ Doch ich komme wieder ins peinliche Reden, wo mir die Feder in Stein erstarrt und Sie wissen gewiß, was ich sagen will. Mein einziger Trost ist, daß der Geist sowenig rückwärts gehen kann, als ein Kind im Mutterleib, und daß ich klar erkenne, wie mein ganzes Leben bis auf diesen Augenblick kein anderes werden konnte, als es geworden ist. War es ja doch gerade mein Leben, das mir jene hohe Offenbarungen der Poësie überhaupt verstehen lehrte und verbürgte! Was kommt, ist wieder die Folge des Vorangegangenen, z. B. wenn ich Sie davon überzeugen kann, daß ich noch Etwas Tüchtiges leisten kann, so werde ich es auch zu leisten Gelegenheit finden; ist dieß nicht der Fall, so bin ich einer der vom Schicksal geopferten Menschen und zwar von der niedrigsten Klasse, "die die Milchstraße der Unendlichkeit und den Regenbogen der Fantasie
zum Bogen ihrer Hand gebrauchen wollten, ohne je eine Sehne darüberziehen zu können." 9 Ich werde in diesem Fall gewiß keiner von den Narren seyn, welche über Götter und Schicksal fluchen. Doch kann ich mir die Sache gar nicht deutlich vorstellen. Möge es Gott gefallen, daß ich, nachdem ich die todte Form zerschlagen, mein Leben dem Studium der höheren Gottesgelahrtheit widmen darf!
109 Zitat aus Jean Pauls Titan (Band 4, 35. Jobelperiode, 145. Zykel).
10 Ab hier folgt im Manuskript eine Abschrift des vorangegangenen Textes, wahrscheinlich von der Hand Karl Hellmuth Dammas' (vgl. Busch 1999, S.116)